Die Corona-Krise hat überkommene Denk- und Handlungsmuster in Unternehmen und Organisationen infrage gestellt. Wir müssen uns wandeln, soviel ist klar. Aber wohin und wie, das ist die große Frage. Niemand kann das abschließend sagen, manches bleibt noch vage. Also ist Transformation das Navigieren mit unvollständigen Rahmenbedingungen, es ist das Suchen nach dem richtigen Weg, immer das reflektierend was vor uns liegt oder liegen könnte, aber auch das, was vergangen ist und auch immer nach links und nach rechts schauend, ins Ausland oder zum Wettbewerb.
»Unverhofft kommt oft«, sagt der Volksmund. Auch Krisen, die weltweit Leben bedrohen und den Alltag auf den Kopf stellen, kommen nicht selten völlig überraschend. Eine frappierende Ausnahme ist die Corona-Pandemie: Im Jahr 2013 erstellte das Fraunhofer INT die Studie »Pandemische Influenza in Deutschland 2020« – und nahm mit seinen Szenarien zu Infektionsverläufen und Reaktionsmöglichkeiten die Problematik des ersten Corona-Jahres bis aufs Datum genau vorweg.
Die präzise vorausschauende Publikation stammt aus dem Fraunhofer-Verbund Innovationsforschung, dem auch das Fraunhofer IAO angehört. Es zeigt, dass Zukunftsforschung gerade für globale Ausnahmesituationen wie z.B. eine Pandemie entscheidend ist – und gerade dann auf besonders fruchtbaren Boden fällt: Nie zuvor wurde in allen gesellschaftlichen Bereichen der Bundesrepublik so mutig experimentiert, so bedingungslos und übergreifend zusammengearbeitet wie jetzt. Denkblockaden sind in kürzester Zeit gefallen, die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft auf dem Weg in ein »New Normal« ist in vollem Gange.
Doch die volle Innovationskraft dieser Transformation wird erst eine zielgerichtete Kombination verschiedener Faktoren zur Entfaltung bringen: der Einsatz neuer Technologien, eine moderne Arbeitsorganisation sowie eine hohe Qualifikation und Motivation der in der Arbeitswelt agierenden Menschen. Vier zentrale Schauplätze des Wandels rücken dabei in den Blick, wie Forschungsarbeiten des Instituts gezeigt haben:
Die Störanfälligkeit von Lieferketten und stockende Produktionsprozesse in der Pandemie haben gezeigt: Der Bereich Herstellung einschließlich der Produktentwicklung muss in Krisenzeiten resilienter werden. Im Rahmen des Projekts »FutureWork360« stellte das Fraunhofer IAO auf der Zukunftsmesse re:publica 2020 zunächst das enorme Potenzial eines sogenannten »Digitalen Laborzwillings« vor: In solch einem virtuellen Labor können alle Eigenschaften eines geplanten Produkts oder Prozesses online simuliert und optimiert werden – bis hin zum marktreifen Prototyp, der dann in die Produktionsprozesse eingespeist wird.
Dass auch der Produktionszyklus selbst und die damit verbundenen Prozesse digitalisiert und vernetzt werden sollten, demonstrierte das Fraunhofer IAO ebenfalls auf der re:publica. Gezeigt wurde unter anderem, wie produzierende Unternehmen auch in Zeiten außergewöhnlicher Disruption ihren Betrieb »per Fernsteuerung« aufrechterhalten und kontrollieren können. Produktion, Produktentwicklung, Simulation und Prozessentwicklung gilt es zukünftig integriert zu betrachten – Stichwort: Advanced Systems Engineering.
In fast 70 Prozent von mehr als 500 befragten Unternehmen arbeiteten die Angestellten in der ersten Phase der Corona-Pandemie komplett im Homeoffice; bei 21 Prozent wurde das Modell einer 50:50-Aufteilung gewählt. Das ergab eine im Juli 2020 publizierte Studie des Fraunhofer IAO und der Deutschen Gesellschaft für Personalführung (DGFP). »Die digitale Transformation in Arbeitsprozessen hat einen gewaltigen Schub bekommen«, bilanziert Kai Helfritz von der DGFP. Aufgrund der anhaltenden Pandemie-Situation wurden diese Befunde mittlerweile in mehreren Folgestudien weiterverfolgt und aufgeschlüsselt. So erlebten laut einer im Dezember 2020 publizierten Studie 90,3 Prozent der Befragten durch Homeoffice-Arbeit keinen Rückgang der Produktivitität. Hingegen stellten 38,8 Prozent eine steigende oder sogar stark steigende Produktivität fest.
Dass die Sphäre »Beruf« von der Sphäre »Privatleben« nicht mehr so klar getrennt ist wie zu Zeiten des täglichen Pendelns zwischen Zuhause und Büro, schafft ein gewöhnungsbedürftiges Entgrenzungsgefühl. Hier ergab eine im Februar 2021 veröffentlichte Folgestudie: Für 47 Prozent der Befragten wird das Thema »Entgrenzung« mit fortdauernder Homeoffice-Tätigkeit wichtiger. Um die Entgrenzungsproblematik gezielt zu managen, lassen sich neue Strategien zur Selbstorganisation entwickeln. Dabei wird z. B. eine zeitliche und mentale Abgrenzung zwischen Tätigkeiten für die private und familiäre Sphäre einerseits und der Erwerbsarbeit andererseits eingeübt. Auch müssen technische Kommunikationslösungen für die Anbindung an das Unternehmen von zuhause aus vielfach noch optimiert und vereinfacht werden.
Nur die Hälfte der deutschen Mittelständler hat eine schlagkräftige und umfassende Strategie zur Digitalisierung, so eine Studie des Fraunhofer IAO im Auftrag der Personalberatung Rochus Mummert. Der Rest der für die Studie Befragten beschränkte sich auf partielle Strategien oder pilothafte Umsetzungen. Der Grund dahinter liege oft darin, dass die nötige Unternehmens-Kultur für einen Wandel nicht ausreichend gelebt werde, so die Studie.
Ganz Ähnliches förderte eine Fallstudie des Fraunhofer IAO gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung und mit Unterstützung der Otto Group zutage: Die Pandemie habe den Nachholbedarf kleiner und mittlerer Unternehmen bei der Umstellung auf digitale Prozesse, Arbeitsmittel und Kommunikationsformen schonungslos offengelegt. Insbesondere müsse das mittlere Management als »Transmissionsriemen« zu den Mitarbeiter*innen stärker einbezogen werden, um den zur erfolgreichen Digitalisierung benötigten Kulturwandel sicherzustellen. »Durch die Stärkung der Selbstverantwortung der Mitarbeitenden und eine engere Zusammenarbeit über Hierarchie- und Bereichsgrenzen hinweg können wir schneller auf die Bedürfnisse der Kundinnen und Kunden reagieren«, so Alexander Birken, Vorstandsvorsitzender der Otto Group.
Damit Beschäftigte mehr Eigenverantwortung übernehmen können, bedarf es interner wie externer Angebote zur kontinuierlichen Weiterbildung. Mehr denn je muss die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen aktiviert werden. Nur dadurch ließen sich Eigenständigkeit und Unabhängigkeit herausbilden, so Prof. Dr. Wilhelm Bauer, Institutsleiter des Fraunhofer IAO: »Jede Maßnahme, die zur Schaffung einer Souveränität in Bezug auf Technologie, Innovation, Wertschöpfung und Organisation unter der Maxime einer Kosteneffizienz führt, dient der Vorbereitung auf zukünftige Herausforderungen und auch Krisen.«
Die Expert*innen des Fraunhofer IAO helfen Unternehmen bei der gezielten Kompetenzentwicklung ihrer Belegschaft mit einer mehrstufigen Strategie. Zunächst ermitteln sie, welche Technologien für das Unternehmen in Zukunft wichtig werden könnten. Anschließend geht es um die Frage, welche Folgen der Einsatz dieser Technologien auf die Beschäftigten und ihre Rollenprofile haben wird. In einem weiteren Schritt werden dann entsprechend passgenaue Fortbildungsmöglichkeiten entwickelt: »Dabei geht es nicht um Frontalunterricht, sondern darum, die Belegschaft schrittweise an die neuen Technologien heranzuführen«, erklärt Alexander Karapidis vom Fraunhofer IAO.
Die Welt der Wirtschaft wird nach Corona und auch schon bis zu diesem »nach« – auch in Deutschland – nicht mehr dieselbe sein. Für Institutsleiter Bauer zeichnen sich bereits heute viele Trends ab, die auch nach dem Überstehen der Pandemie bleiben werden: »Weniger Dienstreisen, mehr virtuelle Meetings, auch im industriellen Umfeld werden wir viel mehr ›remote‹ organisieren. Das wird der Digitalisierung einen zusätzlichen Schub geben.« Die Anforderungen der betrieblichen Flexibilität, aber auch die Bedürfnisse der Mitarbeiter*innen nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf werden aufgrund der Corona-Erfahrungen künftig besser organisierbar werden.
Letztlich dürfte die Pandemie trotz all ihrer Schrecken doch zumindest etwas Positives hervorgebracht haben: eine stark gewachsene Veränderungsbereitschaft. Den Unternehmen in Deutschland ist klar geworden, dass sie sich häufig noch nicht intensiv genug mit digitaler Transformation beschäftigt hatten. Nur die Bereitschaft, sich an die neue, durch Corona aufgezwungene Situation anzupassen, garantiert letztlich eine nachhaltig transformierte Wirtschaft, die widerstandsfähiger gegen überraschende Krisen ist.