Die Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO präsentiert mit der 360° Gastwelt ein ganz neues Verständnis von »Gastlichkeit« als Serviceprodukt und zeigt damit den Weg für eine Weiterentwicklung einer bislang stark fragmentierten Tourismus-, Hospitality- und Foodservice-Industrie (Hersteller, Händler, Zulieferer) zu einem vernetzten Business Ecosystem auf. Die Kernklientel, und damit Zielgruppe der Wortschöpfungsbetrachtung, umfasst Touristinnen und Touristen, Geschäftsreisende, aber auch die lokale Bevölkerung. Die Untersuchung wurde heute von der federführenden Wissenschaftlerin Prof. Dr. Vanessa Borkmann sowie den UdW-Vorständen Alexander Aisenbrey und Dr. Marcel Klinge vorgestellt. »Wenn wir bislang über Gastlichkeit gesprochen haben, standen Reisende im Fokus. Gastlichkeit findet aber tagtäglich im Leben von uns allen statt – ob auf dem Weg zur Arbeit beim Bäcker oder im Coffeeshop, bei Events und Messen, in der Kantine zum Mittagessen, in neuen Coworking-Spaces oder Freizeitsparks, bei der Schul- und Krankenhausverpflegung, im Reisebüro oder eben in Hotels oder der klassischen Gastro«, betont Klinge. 12 bis 15 Prozent der gesamten Lebenszeit verbringe jede Person durchschnittlich in der Gastwelt und damit jede achte Minute, so die Studie. »Gastlichkeit ist also keine Sache, die man zwei bis drei Mal im Jahr im Urlaub erfährt, sondern ein zentraler Eckpfeiler unseres täglichen Lebens und gesellschaftlichen Miteinanders. Ohne Gastlichkeit würde unserem Land ein wichtiger sozialer Stabilitätsanker fehlen«, sagt der frühere Bundestagsabgeordnete.
Gäste und Mitarbeitende rücken in den Fokus
Das Fraunhofer-Team konstatiert in seiner Untersuchung, dass Gastlichkeit gerade nach den jüngsten Lockdown-Erfahrungen eine Art »Renaissance« erlebe. Borkmann erklärt: »Vielen ist in den Monaten zuhause bewusst geworden, was uns als Gesellschaft fehlt, wenn wir keine Orte und Möglichkeiten zur sozialen Interaktion haben, ob im beruflichen oder privaten Umfeld.« Wenn auch die Werte der Gastlichkeit überwiegend kommerziell sind, werden eben auch die nicht-kommerziellen, die sozialen Werte, immer wichtiger. Dazu zähle, so Borkmann, dass man auch die Bedürfnisse der Gastgeberinnen und Gastgeber und lokalen Bevölkerung stärker berücksichtige. »Wir stellen mit dem Modell der 360° Gastwelt den Gast sowie die Mitarbeitenden in den Mittelpunkt. Gastlichkeit wird zum gemeinsamen Purpose, zum verbindenden Element der Teilsysteme Tourismus, Hospitality, Catering, Gastronomie sowie Food und Non-Food«, unterstreicht sie.
Das Forschungsteam kommt in seiner Untersuchung zu dem Schluss, dass das bisherige Konzept der Tourismuswirtschaft keine ganzheitliche Perspektive auf Gastlichkeit einnehme. Die Studie präsentiert vor diesem Hintergrund ein neues, leistungsfähiges Modell, mit dem Ziel, ein gemeinsames Business Ecosystem zu entwickeln. »Für ein positives Gastlichkeitserlebnis sind unglaublich viele Akteure beteiligt, mehr, als wir im Alltag wahrnehmen. Ohne eine funktionierende Wäscherei oder leistungsstarke Food-Produzenten können Hotels und Restaurants nicht arbeiten. Für Kartenzahlungen sind Finanzdienstleister nötig, für Reisen Mobilätsunternehmen und leistungsstarke IT-Systeme, für die Krankenhausverpflegung regionale Caterer. Schon diese Beispiele zeigen, wie weit verzweigt und komplex die Wertschöpfungsnetzwerke der 360° Gastwelt in der Realität sind. Daher ist eine ganzheitlichere Betrachtung, also ein neues Big Picture, überfällig«, erklärt Denkfabrik-Vorstand Aisenbrey.
Neue Beschäftigungs- und Wertschöpfungszahlen
Neben dieser qualitativen Betrachtung präsentieren die Autorinnen und Autoren auch neue, spannende Kennziffern zur 360° Gastwelt. Durch den erweiterten Blick auf das System summiert die Studie bei den Beschäftigungszahlen 4,1 Mio. Erwerbstätige (direkt und indirekt), was einem Anteil von neun Prozent aller Beschäftigten entspricht. Die Berechnungen liegen rund 35 Prozent über den bisherigen Zahlen von rund drei Millionen Erwerbstätigen. »Mit unserer neuen Gastwelt-Perspektive nähern wir uns mehr und mehr einem realistischen Bild an – und das konservativ berechnet. Denn das World Travel and Tourism Council (WTTC), dessen Zahlen ebenfalls in der Studie zu finden sind und deren Daten auch von der Bundesregierung genutzt werden, geht sogar von 5,9 Mio. Beschäftigten aus (direkt und indirekt). So oder so, beim Multi-Akteursnetzwerk 360° Gastwelt handelt es sich um einen Bigplayer der deutschen Wirtschaft«, fasst Klinge zusammen.
Beeindruckend sind auch die in der Studie präsentierten Zahlen zur Brutto-Wertschöpfung: Diese beträgt laut aktuellen WTTC-Daten 355,3 Mrd. Euro. Damit liegt der Tourismus nach der Automobilindustrie und noch vor dem Maschinenbau und Einzelhandel auf Platz 2.
Anschlussstudie in 2023 geplant
In einem nächsten Schritt wollen das Fraunhofer IAO und die Denkfabrik Union der Wirtschaft im Jahr 2023 basierend auf dem neuen 360° Gastwelt-Modell neue Schlüsselkennzahlen untersuchen, die noch stärker die Megatrends Nachhaltigkeit und Resilienz berücksichtigen.