Ein Interview mit Prof. Dr. Wilhelm Bauer über den Wandel der Arbeitswelt
Prof. Dr. Wilhelm Bauer, Institutsleiter des Fraunhofer IAO und stellvertretender Institutsleiter des IAT der Uni Stuttgart, ist nicht nur Technologiebeauftragter des Landes Baden-Württemberg. Er wirkt auch in zahlreichen Gremien, Verbänden, Beiräten, Lenkungskreisen und Expertenkommissionen mit.
Die Pandemie trifft Wirtschaft und Gesellschaft hart. Aber als Arbeits- und Innovationsforscher erleben Sie gerade wohl trotzdem eine der spannendsten Zeiten?
Bauer: Der Volksmund sagt: »Not macht erfinderisch.« Genau das sehen wir jetzt. Die Krise hat zu einer noch nie dagewesenen Innovationsdynamik geführt, Produkte und Dienstleistungen neu zu erfinden. Es gibt eine große Bereitschaft, digitale Plattformen zu nutzen, Kooperationen einzugehen, über Branchen hinweg zusammenzuarbeiten und schnell neue Lösungen zu finden. Wir erkennen jetzt die Fähigkeit vieler unserer Unternehmen, schnell und agil zu handeln. Besonders bei den kleinen und mittelständischen Unternehmen. Auch in der Verwaltung und in anderen bürokratischen Strukturen erleben wir jetzt, dass Dinge in Tagen bearbeitet werden, die sonst Monate oder Jahre dauern. Wenn man später auf diese Krise zurückblickt, wird man sicherlich sagen: Es gab selten eine kreativere Zeit, in der so viel Neues ausprobiert und Bestehendes hinterfragt wurde. Im Moment wird aus der Not heraus viel experimentiert. Nicht alles wird dauerhaft tragfähig sein. Und auch nicht alle Organisationen und Unternehmen machen das so wie ich es beschrieben habe, leider gibt es Licht und auch viel Schatten.
Apropos dauerhaft tragfähig. Ganz Deutschland macht überwiegend gute Erfahrungen mit der Arbeit im Homeoffice. Wie viel Homeoffice wird es zukünftig geben?
Bauer: Corona wird uns in den nächsten Jahren erhalten bleiben. Auch wenn wir das Virus mit den Impfungen hoffentlich unter Kontrolle bringen können, müssen wir lernen, damit zu leben. Falls das nicht gelingt, könnte daraus eine Anforderung an eine höhere Homeoffice-Quote folgen. Ich denke aber, dass sich diese ohnehin höher als vor dem Lockdown einpendeln wird. Die Pandemie hat in ganz Deutschland und darüber hinaus einen »Experimentierraum« geschaffen, der bei vielen Beschäftigten und Führungskräften zu ganz neuen Erfahrungen mit Homeoffice geführt hat. Ich merke aber im Moment auch, dass der lange Lockdown langsam so auf die Nerven geht, dass viele Menschen so schnell wie möglich in eine Art Normalität, ins Büro im Unternehmen, zurück möchten.
Ist die derzeitige Homeoffice-Situation geeignet, die Arbeitswelt nachhaltig zu verändern?
Bauer: Ich weiß es noch nicht, vermutlich aber ja. Denn die Lernerfahrungen aus den Monaten mit Corona werden bleiben. Viele Unternehmen und Beschäftigte haben sozusagen »über Nacht« nicht nur Vorbehalte gegenüber dem Homeoffice, sondern auch gegenüber Videokonferenzen und anderen Möglichkeiten der Kommunikation abgebaut. Das zukünftige »New Normal« wird ein anderes sein. Nur wie genau, das werden wir noch sehen. Was sich aber schon gezeigt hat, ist der Wille zur Veränderung und ihre technische Machbarkeit. Was noch fehlt, ist eine intensive Auseinandersetzung mit der vorhandenen Kultur in Unternehmen, in diesem Fall sogar mit notwendigen Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Frage ist also noch offen, ob es zu einem echten Paradigmenwechsel in der Arbeitsgestaltung kommen wird. Ich glaube aber: ja!
Die digitalen Lösungen für Homeoffice, z.B. Videokonferenz-Tools, existierten bereits vor der Krise. Warum wurden diese noch nicht in der Breite genutzt? Warum erst jetzt?
Bauer: Das hat mehrere Gründe. Zum einen waren die technischen Bedingungen bisher noch nicht optimal. Wir haben auch jetzt noch immer echte Herausforderungen in der Infrastruktur, etwa was den flächendeckenden Breitbandausbau betrifft. Ich erlebe bei Videokonferenzen immer noch, dass die Kameras abgeschaltet werden müssen, weil die Leitungen überlastet sind.
Zum anderen haben wir ein über Jahrhunderte eingeübtes kulturelles Verständnis von Arbeit und Freizeit und individuelle Verhaltensmuster. Es ist ein Ritual, morgens zur Arbeit zu gehen und am Abend nach Hause zu kommen. Dann ist Feierabend und Zeit für private Aktivitäten. Nun, da alle zwangsläufig zuhause bleiben mussten, waren wir dazu gezwungen, neue Kommunikationskanäle zu nutzen. Inzwischen haben wir gute Erfahrungen damit gemacht und merken, dass es funktioniert. Die technischen Features der Video-Tools wurden auch stark verbessert. Und es ist ja auch sehr angenehm, wenn man nicht morgens um vier Uhr aufstehen muss, um zu einem Meeting zu fliegen. Diese Erfahrungen haben bislang gefehlt. Erst die Not hat uns »wendig« gemacht. Die Pandemie hat wie eine Vorspultaste gewirkt und die Arbeitswelt aus der Not ins Next Level gehoben. Sie hat bereits laufende Transformationen enorm beschleunigt – im Bereich der Technologie, in der Gesellschaft und in der gesamten Wirtschaft.
Welche Veränderungen wird die Pandemie in der Wirtschaft nach sich ziehen?
Bauer: Ich bin mir sehr sicher, dass wir weiterhin eine vernetzte Weltwirtschaft haben werden. Klar ist für mich aber auch, dass wir uns in Teilen zu sehr auf andere Länder verlassen haben. Hier gilt es, umzudenken. Single-Source war schon immer gefährlich. Das haben wir jetzt leider schmerzlich erfahren müssen und hoffentlich verstanden. Wir werden uns viel mehr Gedanken machen und durchsimulieren müssen, was passieren könnte. Dabei helfen uns Technologien wie Künstliche Intelligenz. Die Entwicklungen in den Bereichen Lernende Systeme, also Künstliche Intelligenz, in der Robotik, im Rapid Process Automation und in der Virtualisierung von Prozessen führen dazu, dass Arbeitsstände und Unternehmensprozesse zukünftig in Echtzeit abbildbar, transparent, weitestgehend automatisierbar und in bis dato nicht gekannter Geschwindigkeit durchführbar sein werden. Auch das Potenzial von Quantentechnologien ist enorm, sie könnten zukünftig die technischen Lösungen von heute nochmals deutlich übertreffen. Mensch-Roboter-Kollaborationen oder der Einsatz digitaler Assistenten in der Wissensarbeit werden die Art und Weise, wie wir arbeiten und leben, substanziell und nachhaltig verändern.
Das Institut forscht seit vielen Jahren an resilienten und flexiblen Arbeitskonzepten. Bei Fraunhofer entstand sogar bereits im Jahr 2012 eine Studie mit Szenarien und Handlungsempfehlungen für eine pandemische Influenza in Deutschland. Warum werden Erkenntnisse aus der Forschung häufig erst wahrgenommen oder umgesetzt, wenn der Druck groß genug ist?
Bauer: Ziel einer Studie ist immer, komplexe Zusammenhänge zu klären, den Auftraggeber für zukünftiges Handeln zu beraten und Empfehlungen aus Sicht der Wissenschaft auszusprechen. Inwieweit dies letztendlich einen Einfluss beim Auftraggeber hat und welche Konsequenzen aus Studienergebnissen gezogen werden, liegt nicht in unserer Hand. Als unabhängige und gemeinnützige Forschungseinrichtung betrachten wir die Zukunft aus allen möglichen Perspektiven. Aber wir können die Lösungen nur anbieten. Ich denke, dass all jene Unternehmen, die schon vor der Pandemie Digitalisierungsprojekte mit uns durchgeführt haben, vergleichsweise gut vorbereitet waren. Man muss sich frühzeitig damit beschäftigen, weshalb wir uns sehr wünschen würden, dass Unternehmen früher auf uns zukommen würden – nicht erst in der Notlage. Aber man kann die Prinzipien einer Not auch nutzen, um Innovationen voranzutreiben, nach dem Motto »trial and error«. Viele Unternehmen haben mit neuen Arbeitsformen experimentiert oder Task Forces gegründet, um Dinge schnell und agil umzusetzen. Erst später wurde dann die Betriebsvereinbarung dazu gemacht. Unsere Gesellschaft ist viel zu sehr in einer guten Organisiertheit gefangen: erst planen, dann Gesetze machen und anschließend wird umgesetzt. Jetzt ist es genau andersherum. Es herrscht eine höhere Experimentierfreudigkeit in Deutschland, das über Nacht zum »Reallabor« wurde. Jetzt wird zuerst umgesetzt. Deshalb arbeiten auch wir am Institut viel mit Reallaboren und Experimentierräumen, um neue Themen oder Konzepte direkt in die praktische Anwendung zu bringen und auszuwerten. Wenn wir diesen Spirit beibehalten und proaktiv ansetzen, wird es eine gute Zukunft.
Zu guter Letzt noch eine persönliche Frage: Wie hat sich Ihr Arbeitsalltag durch die Corona-Pandemie verändert?
Bauer: Auch ich wurde von einem Tag auf den anderen ins Homeoffice versetzt. Das hatte für mich durchaus Vorteile, da ich zum Beispiel nicht mehr früh morgens aufstehen musste, um einen Flieger für ein Meeting zu erwischen. Ich bin ohnehin kein Frühaufsteher, jetzt kann ich nach meinem eigenen Rhythmus aufstehen. Als Führungskraft habe ich aber gemerkt, dass ich mich anders organisieren muss. Bei den vielen Kommunikationskanälen, die wir heute zur Verfügung haben, muss man sich klar absprechen, mit wem man über welche Kanäle kommuniziert. Aber ich habe auch schnell festgestellt, dass mir die persönlichen Begegnungen fehlen, das vermisse ich schon sehr. Deshalb freue ich mich schon sehr darauf, wenn es im Institut wieder wuselt und ich viele Menschen auf den Fluren zufällig treffen kann. Und erst recht freue ich mich schon jetzt auf das erste reale »Feschtle«, wie wir Schwaben sagen!