Von den 2,6 Millionen erwerbstätigen Menschen mit Behinderung in Deutschland arbeiten 367 000 in Handel und Gastgewerbe, weitere 310 000 sind in 683 Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) beschäftigt. Insbesondere die direkte Arbeit mit Kunden bietet dem schwerbehinderten Servicepersonal die Chance auf unmittelbare Inklusion in die Lebens- und Arbeitswelt von Nichtbehinderten. Denn der persönliche Kontakt mit dem Kunden fördert die erlebte Wertschätzung, da die Mitarbeitenden mit Behinderung als selbstständig handelndes Individuum und nicht als betreute Person wahrgenommen werden. Aus diesem Grund haben die WEK Werkstätten Esslingen-Kirchheim das Projekt »InkluServ« initiiert, an dem das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO als wissenschaftlicher Partner mitwirkt.
Selbstständiger Kundenkontakt wird durch digitale Unterstützung möglich
Ziel des Forschungsprojekts ist der Einsatz eines digitalen Assistenzsystems für schwerbehinderte Mitarbeitende in einem inklusiven Supermarkt und Café in Plochingen. Die digitale Unterstützung macht es möglich, dass Menschen mit Handicap außerhalb der unmittelbaren Betreuungsbereiche der Werkstatt selbständig mit Kunden interagieren. Dazu wird das Assistenzsystem auf den Tablets der WEK Werkstätten Esslingen-Kirchheim gGmbH installiert. Das barrierefreie Tool enthält die Module Tourenplanung, Navigation und Webshop. Dadurch können schwerbehinderte Auslieferungsfahrerinnen und -fahrer ihre Kunden mit dem E-Lastenbike erreichen und die Warenauslieferung selbständig durchführen. Im Fokus des Projekts steht die Frage, wie die Arbeit mit Kunden für Menschen mit Behinderung gestaltet werden sollte und wie die besonderen Anforderungen dieser Zielgruppe unterstützt werden können.
Fraunhofer IAO erforscht Anforderungen der inklusiven Arbeit mit Kunden
Bestellte Ware an Kunden auszuliefern, ist kein einfacher Job – erst recht nicht für Menschen mit Behinderung. Diese müssen nicht nur ihre Tour so planen, dass mehrere Kunden an verschiedenen Adressen mit einzelnen Teillieferungen angesteuert werden, sondern sind an der Haustür der Kunden mit ungewohnten Herausforderungen konfrontiert. Da der Kunde aktiv am Dienstleistungsprozess beteiligt ist, kann sein Verhalten den Auslieferungsprozess spontan verändern. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn der Kunde mit der ausgelieferten Ware nicht zufrieden ist, über zu wenig Bargeld für die Bezahlung der Lieferung verfügt oder die Ware zu spät geliefert wird. In solchen Fällen muss der schwerbehinderte Auslieferungsfahrende auch mit unterschiedlichen Emotionen des Kunden umgehen können, z. B. wenn dieser freundlich, gestresst oder verärgert reagiert. Gleichzeitig muss der mobile Dienstleister auch mit seinen eigenen Emotionen angemessen umgehen.
Neben diesen emotionalen Stressfaktoren müssen auch physische Risiken in Abhängigkeit von der jeweiligen Behinderung beachtet werden, wie z.B. gefährliche Wege oder ein hohes Verkehrsaufkommen. Um die Anforderungen der interaktiven Arbeit mit Kunden an schwerbehinderte Menschen im Vorfeld zu erfassen, testet das Fraunhofer IAO den Prozess der Auslieferungsfahrten vorab zusammen mit den Beteiligten. Auf diese Weise werden Lücken zwischen den Anforderungen und den Kompetenzen der Auslieferungsfahrenden frühzeitig erfasst und der Qualifizierungsbedarf ermittelt.