Technische Innovationen in der Lebensmittelkonservierung, im Transportwesen und in der Agrarproduktivität haben ein globales Lebensmittelversorgungssystem ermöglicht, das größtenteils weit entfernt von den Endkonsumenten in urbanen Räumen stattfindet. Doch der Klimawandel und damit verbundene Nachhaltigkeitsbestrebungen, ein sich wandelndes Konsumentenbewusstsein, schwindende Ressourcen, fortschreitende Urbanisierung und sich verschärfende internationale Konflikte, stellen dieses System vor enorme Herausforderungen. Nachdem die Industrialisierung im 19. Jahrhundert die Landwirtschaft aus den Städten verdrängt hat, scheint sich im Kontext von Versorgungssicherheit und Klimafolgenanpassung eine Trendwende hyperlokaler Lebensmittelproduktion mit neuen Potenzialen und Technologien anzukündigen. Die Rückführung der Lebensmittelproduktion in urbane Räume bietet unter anderem Chancen zur Verringerung von Importabhängigkeiten im Kontext globaler Lieferketten und resultierender CO₂-Emissionen sowie zum ökologischen Umgang bisher landwirtschaftlich genutzter Flächen. Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO befasst sich im Rahmen des Innovationsverbundes »Morgenstadt: Future District Alliance« seit 2023 damit, wie Akteure aus Stadt- und Quartiersentwicklung kontrollierte Anbauumgebungen für Lebensmittel (‚controlled environment agriculture‘) im urbanen Raum einsetzen können und welche Potenziale diese bieten.
Auf dem Dach, im Innenraum oder im modularen Container?
Die Technologien, die der urbanen Lebensmittelproduktion zugrunde liegen, entwickeln sich rasant. Und sie weisen einen direkten Bezug zu wichtigen Veränderungen wie einer stärker pflanzlich orientierten Ernährung, der Einsparung von Wasser und der Verringerung von Lebensmittelverschwendung auf. Im Rahmen der Studie wird ein Potenzialberechnungstool vorgestellt, welches zur Ermittlung konkreter Anbaupotenziale für ausgewählte Quartiersentwicklungen genutzt wurde. Es berücksichtigt drei Arten von urbanen Anbausystemen: Dachgewächshäuser, vertikale Indoor-Farmen und Urban Farming Container. Die Potenzialanalyse zeigt, welche theoretischen Möglichkeiten es gibt, verschiedene Anbausysteme in ungenutzten städtischen Flächen wie Dächern, Tiefgaragen und leerstehenden Innenräumen zu nutzen. Dabei wurden nicht nur die Bruttoproduktion, sondern auch weitere Potenziale wie die Schaffung von Arbeitsplätzen, der Gesamtenergie- und Gesamtwasserverbrauch und die Einsparung von Ackerland berücksichtigt. In fünf beispielhaften Quartiersentwicklungen in deutschen Großstädten sind dabei auf einer Gesamtfläche von 54 Hektar bis zum Jahr 2050 theoretische Potenziale von zusammen 23.000 Tonnen Gemüse zu erwarten. Pro m² Fläche einer Quartiersentwicklung könnte durch intelligente Integration somit rechnerisch mit bis zu 40kg Gemüse pro Jahr im Durchschnitt und saisonunabhängig zu rechnen sein. Unter anderem könnten in Zukunft durch die gezielte Aktivierung von Nebenflächen bis zu 75 Prozent der PKW-Stellplätze für modulare Anbausysteme, 64 Prozent der Dachflächen für Dachgewächshäuser und temporär ungenutzte Geschosse für vertikales Indoor-Farming genutzt werden. Diese Szenarien berücksichtigen erwartbare Entwicklungen der Verkehrswende und verringerte Büronutzungsbedarfe auf Quartiersebene.
Anbausysteme für die Stadtquartiere der Zukunft
»Viele Trends deuten darauf hin, dass es immer mehr Druck gibt, unsere Lieferketten, Städte und Konsummuster zu verändern. Gleichzeitig bieten neu entstehende Stadtquartiere selbst viele Chancen, räumlich über die nächsten Jahrzehnte bis 2050 nachzudenken. Politische Ziele wie der Wandel zu kreislauforientierten Wirtschaftsformen werden diese Entwicklung beschleunigen«, erklärt Dr. Steffen Braun, stellvertretender Institutsleiter des Fraunhofer IAO. »In Anbetracht aktueller Entwicklungen in anderen Ländern wie Kanada, Niederlande, Schweden oder Singapur ist es für die Quartiers- und Stadtentwicklung sinnvoll, sich schon jetzt zumindest strategisch mit diesem Thema zu beschäftigen und spätere Potenziale vorzusehen«, führt er fort. In naher Zukunft sollen aus der Future District Alliance erste Pilotprojekte entstehen, die Aufwand und Nutzen quartiersintegrierter Lebensmittelproduktion in der Praxis untersuchen und als Vorbild für weitere Projekte dienen können. Entscheidend dafür ist eine gezielte Forschung, Entwicklung und Pilotierung geeigneter Konzepte bei gleichzeitiger Entwicklung neuer Geschäftsmodelle sowie Regularien von der Planung bis zum Betrieb.