Derzeit reagieren die meisten Industrieunternehmen erst auf auftretende Ausfälle, wenn Maschinen und Anlagen bereits stillstehen (reaktive Instandhaltung), oder führen die Instandhaltung in geplanten Zeitintervallen durch (präventive Instandhaltung). Jedoch führt dies entweder zu kurzfristigen Produktionsausfällen oder teils zu einer Verschwendung von Maschinenarbeitsstunden und Material, weil Komponenten vorzeitig ausgetauscht werden. Die Bestimmung des optimalen Zeitpunkts für die Maschineninstandhaltung zählt nach wie vor zu den großen Herausforderungen in der Produktion. Zwar gewinnen datengetriebene Modelle von Produktionssystemen hierbei zunehmend an Bedeutung, doch da diese nur Trends anhand vergangener Ereignisse extrapolieren, fehlt es an Daten zu Ausfallszenarien, die bis dato nicht aufgetreten sind. Ein vielversprechender Lösungsansatz für eine vorausschauende Instandhaltung (Predictive Maintenance) ist das Simulieren derartiger Ausfallszenarien mittels physikbasierter Modellierung und das Anreichern der datengetriebenen Vorhersagemodelle mit den generierten Simulationsdaten. Dies wird mithilfe eines Digitalen Zwillings des Produktionssystems möglich, anhand dessen sich prädiktive Aussagen wie beispielsweise die Restnutzungsdauer (Remaining Useful Life – RUL) von Maschinenkomponenten treffen lassen.
Im Rahmen des EU-Projekts Z-BRE4K hat das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO gemeinsam mit dem kooperierenden Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement IAT der Universität Stuttgart und weiteren 17 Partnern aus 9 europäischen Ländern Konzepte sowie Lösungen zur Datenerfassung, -verarbeitung und -analyse auf der Grundlage Digitaler Zwillinge erarbeitet. Ziel des dreijährigen Projekts war es, Produktionssysteme durch eine vorausschauende Instandhaltung zu optimieren, um Kosten zu sparen und die Produktivität der Unternehmen zu steigern. Joachim Lentes, Leiter des Teams Digital Engineering am Fraunhofer IAO, erklärt noch einen weiteren Vorteil: »Störanfälligkeit und Unsicherheiten hinsichtlich der Planbarkeit von Ressourcen und Kapazitäten werden durch Abhängigkeiten von Lieferanten und ungeplanten Engpässen gerade in Krisen noch verschärft. Das wurde im vergangenen Jahr deutlich. Mit einem intelligenten Management der Ressourcen und Kapazitäten können Unternehmen auch ihre Resilienz verbessern, da sie mehr Stabilität und Planungssicherheit gewinnen. Genau das macht ein Digitaler Zwilling für die vorausschauende Instandhaltung möglich.«
Mit international erprobten Lösungen zum Digitalen Zwilling für verschiedene Produktionsumgebungen
Das Forschungsteam versteht einen Digitalen Zwilling als digitale Repräsentation eines realen Produkts (z.B. Maschine) oder Prozesses inklusive aller für den jeweiligen Anwendungsfall relevanten Daten und Informationen über den gesamten Lebenszyklus hinweg. Das zugrundeliegende digitale Modell des Realobjekts wird fortlaufend durch Betriebsdaten, Verhaltensanalysen und Simulationen angereichert. Somit wird es auch möglich, die RUL von Maschinenanlagen abzuleiten. Die Ansätze zur RUL-Berechnung basieren auf statistischen Methoden und abgeleiteten Algorithmen, folglich werden hierfür viele Daten benötigt. Das Forschungsteam des Fraunhofer IAO und des IAT der Universität Stuttgart war im Projekt insbesondere für die physikbasierte Modellierung verantwortlich, um Simulationen des Maschinenverhaltens durchzuführen, die als Grundlage für Digitale Zwillinge verschiedener Produktionssysteme dienen. Die erarbeiteten Konzepte und Lösungen wurden in drei Pilotfällen gemeinsam mit Industrieanwendern erprobt, validiert und angewendet; darunter der niederländische Anbieter im Bereich Personal Health und Health Systems Philips, der spanische Metallverarbeiter Gestamp sowie der Maschinenbauer SACMI und der Kunststoffflaschenverschluss-Hersteller CDS aus Italien.
Einführung einer Predictive-Maintenance-Strategie bedarf strukturierter Vorgehensweise
Das Forschungsteam hat die Erkenntnisse aus dem Projekt Z-BRE4K fortwährend in Industrieprojekten oder Innovationsnetzwerken verwertet. Im nächsten Schritt sollen die international und in verschiedenen Branchen erprobten Lösungen vermehrt in die deutsche Industrielandschaft überführt werden. Laut den Erfahrungen des Forschungsteams haben Unternehmen kaum einen Überblick über die vorhandenen Daten und entsprechenden Module, die für eine ganzheitliche Predictive-Maintenance-Strategie und deren Umsetzung benötigt werden. Hinzu kommt, dass Unternehmen häufig eine Systematik fehlt, um ein entsprechendes Geschäftsmodell zur Einführung einer vorausschauenden Instandhaltung aufzubauen. Eine Industrial Internet-of-Things-Architektur mit einer daraus abgeleiteten systematischen Vorgehensweise bilden die Grundlage für die Integration einer vorausschauenden Instandhaltung in die bestehenden Unternehmensprozesse. Die Expert*innen des Fraunhofer IAO unterstützen Unternehmen dabei von der Erarbeitung einer individuellen Roadmap, über eine neutrale und unabhängige Beratung für den Einsatz benötigter Technologien und Software bis hin zur Realisierung konkreter Lösungsansätze. »Erst durch die ganzheitliche Nutzung aller wesentlichen Daten und Informationen über den gesamten Lebenszyklus hinweg können die Potenziale eines Digitalen Zwillings vollständig ausgeschöpft werden«, so Andreas Werner vom Fraunhofer IAO. »Zwar ist aus rein technischer Perspektive bereits vieles mit dem Digitalen Zwilling möglich, aber unserer Erfahrung nach ist noch viel Grundlagenarbeit bei Unternehmen notwendig, vor allem auch hinsichtlich organisatorischer Aspekte.«