E-Commerce statt stationärem Einzelhandel, Netflix statt Kino, Homeoffice statt Bürotage – Innenstädte stehen vor enormen Herausforderungen. Die Digitalisierung fordert neue innovative und kreative Konzepte zur Wiederbelebung von leerstehenden Stadtzentren mit Erlebnisförderung und Authentizität statt homogenen Funktionsstrukturen. Im Juli 2021 veröffentlichte das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO im Rahmen der Innovationspartnerschaft »Innenstadt 2030+ | Future Public Space« die Studie »#ELASTICITY«, die einen spielerischen und experimentellen Ansatz für die multifunktonale Innenstadt von morgen aufzeigt. In Form von Leitszenarien bietet die Studie Einblicke, wohin sich Innenstädte und öffentliche Räume in den nächsten fünf bis zehn Jahren entwickeln könnten. Mit den drei Städten Leverkusen, Hanau und Stuttgart hat die Innovationspartnerschaft im vergangenen Jahr drei Reallabore mit unterschiedlichen Schwerpunkten initiiert, um Teile dieser Leitvision praktisch zu erproben. Auch mit dem Reallabor Pionier:HUB im Werkviertel-Mitte München entwickelt das Fraunhofer IAO Ideen für zukunftsfähige Quartiere. So genannte »Reallabore« bieten als Planungsinstrument die Möglichkeit, gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern gesellschaftliche, technische oder stadtplanerische Transformationsprozesse anzustoßen, um mit akuten Krisen und langfristigen, urbanen Veränderungen innovativ umzugehen. Die nun veröffentlichte Folgestudie »Reallabore in der Elasticity« fasst die erworbenen Erkenntnisse, Herausforderungen, Chancen und praxisnahe Beispiele im Rahmen der Umsetzung in Handlungsempfehlungen für Städte und Kommunen zusammen.
Mehr »Mutivation« zur Gestaltung unserer Innenstädte
Trotz der hohen Potenziale von Reallaboren stehen Städte und Kommunen teils vor großen finanziellen, bürokratischen und organisatorischen Herausforderungen, wie Stefan Müller-Schleipen der Stadtretter GmbH erklärt, die das Gesamtprojekt als Kommunikationspartner unterstützen: »Wir brauchen mehr ›Mutivation‹, denn Mut und Motivation sind die Grundvoraussetzungen für die erfolgreiche Umsetzung eines Reallabors.« Die drei Stadtexperimente setzten daher an konkreten lokalen Herausforderungen an, zeigen diverse Ansätze, wie wissenschaftliche Erkenntnisse mit einfachen Mitteln realisiert werden können, und bieten dadurch Anregungen und Ideen für andere Kommunen. Das Reallabor in Hanau hatte zum Ziel, eine Plattform zu entwickeln, welche eine flexible und mehrfache Nutzung von Flächen und Immobilien ermöglicht, um das akute Problem des Leerstands in der Stadt zu lösen. Das Projekt in Leverkusen fokussierte sich auf die allgemeine Aufwertung des öffentlichen Raumes in der Stadt, welche durch mobiles Stadtmobiliar und verschiedene Interventionen vorangetrieben wurde. Zuletzt nutzte das Projektteam 300 Quadratmeter in Stuttgart als 72h-Forschungswerkstatt für Bürgerinnen und Bürger mit dem Ziel, Verkehrsräume durch innovative und kreative Lösungen funktional neuzugestalten. Im Werksviertel-Mitte in München werden zusätzlich seit diesem Jahr neue Quartierskonzepte in einem kreativen und innovativen Umfeld erprobt, u.a. zu den Themen Urban Farming, Mobilität oder Gastronomie.
Reallabore als gesellschaftlicher Impuls
Die erworbenen Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen für Kommunen und interessierte Beteiligte basieren auf Resultaten von interaktiven Workshops mit Expertinnen und Experten des Innovationsnetzwerks, die parallel zur Realisierung der Reallabore stattfanden sowie eigenen Erfahrungswerten der Netzwerkpartner und Studienautorinnen sowie Rechercheergebnissen. Um Reallabore als Planungsinstrument zielführend und nutzergerecht einzusetzen, bedarf es laut der Studie einer konkreten gemeinsamen Vision, der genauen Definition des Kernteams und von Verantwortlichkeiten, eines interdisziplinären Teamgefüges, einer guten medialen Präsenz sowie übergreifenden Überlegungen zur Verwertung der Erkenntnisse und Skalierbarkeit der Idee.
Eine zentrale Herausforderung der Potenzialverwirklichung von Reallaboren sieht das Forschungsteam in der Bereitstellung einer organisatorischen Struktur, die auch über zeitlich begrenzte Reallabore hinaus einen fortlaufenden Austausch und eine Weiterentwicklung von Ideen gewährleistet. Hierfür braucht es eine aktive Stadtverwaltung, welche die Rolle eines »Match Maker« und Moderators wahrnimmt. So könne der Aufbau einer lebendigen, aktiven Community entstehen, die sich kontinuierlich an urbanen Prozessen beteiligt und mit dem unmittelbaren Umfeld identifiziert. Reallabore stellen daher ein wesentliches Schlüsselelement dar, um durch Offenheit, Transparenz und Mit-Mach-Charakter einen wertvollen gesellschaftlichen Impuls zu leisten.
Ausweitung auf Klein- und Mittelstädte im ländlichen Raum
Die Studie »Reallabore in der Elasticity« bildet den Abschluss der ersten Forschungsphase des Innovationsnetzwerks »Future Public Space«, die im Dezember 2020 startete. Die Erkenntnisse werden in der Folge angewandt und weiterentwickelt. In einer Fortsetzung der Forschungsarbeiten wird die Betrachtung von Klein- und Mittelstädten abseits von Metropolen zukünftig einen wesentlichen Bestandteil einnehmen. »Innovative Experimentierfelder können nicht nur in dicht besiedelten, wirtschaftlichen starken Regionen zur Transformation beitragen, sondern insbesondere auch als Innovation Hubs in Peripherien einen wesentlichen Beitrag zu Veränderungen leisten und neue Chancen bieten«, schließt Prof. Dr. Vanessa Borkmann, Projektleiterin des Innovationsverbunds und Leiterin des Teams Smart Urban Environments am Fraunhofer IAO.