Leben in der glokalen Community

Innovative Wohnkonzepte

© Poha House
Leben auf dem Sonnendeck: Das »Poha House« in Münster verfügt über eine große Dachterrasse, die als Begegnungsort für Bewohnerinnen und Bewohner fungiert.

Die deutsche Wirtschaft braucht dringend Tech-Nachwuchs aus dem In- und Ausland. Doch wie sorgt man dafür, dass die Fachkräfte von morgen sich hier wohlfühlen? Ein Team des Fraunhofer IAO beschäftigt sich im Rahmen des Forschungsprojekts »Future Living 2040+« mit der Frage, wie die Zukunft des Wohnens aussieht – und hat dabei ein paar konkrete Tipps für den künftigen Tech-Standort Heilbronn herausgearbeitet.

Ein Einblick in die Zukunft des Wohnens lässt sich direkt hinter dem Hauptbahnhof von Münster gewinnen. Hier, am Bremer Platz, vereint das »Poha House« in einem modernen Rotklinkerbau seit einigen Jahren alles unter einem Dach, was sich viele Menschen von einem Zuhause wünschen: individuelle Apartmentgrößen vom Studio bis zur 3-Zimmer-Wohnung, zentrale Lage und schicke Ausstattung, Fahrradgarage und Yoga-Raum, schnelles Internet und Wäscheservice. Und neben diesen Services natürlich: eine Gemeinschaft gleichgesinnter Menschen, mit denen man ins Fitness-Studio gehen oder sich für Sonntagabend zum Kochen verabreden kann. 

Insgesamt vier »Poha Houses« gibt es bislang in Deutschland: eins in Münster und drei in Aachen. Je ein weiteres ist in Hamburg und Essen geplant, was dafür spricht, dass die Häuser einen Nerv getroffen haben. »Das Konzept ist ziemlich genial«, sagt Prof. Dr. Vanessa Borkmann. Die studierte Architektin und Professorin für Tourismus mit Schwerpunkt Hotelmanagement leitet das Team »Smart Urban Environments« am Fraunhofer IAO und untersucht derzeit die Zukunft des Wohnens. »Future Living 2040+« nennt sich das groß angelegte Forschungsprojekt, bei dem es im Kern um die Frage geht, wie gut ausgebildete Menschen künftig in urbanen Räumen leben möchten. »Aus unseren Erkenntnissen leiten wir Handlungsempfehlungen für Städte und Regionen ab, die diese Zielgruppe ansprechen möchten«, sagt Borkmann. Aktuell im Fokus der Forschenden: Heilbronn. 

Tiefgreifender Transformationsprozess

Die Stadt am Rande der Metropolregion Stuttgart befindet sich seit einigen Jahren in einem tiefgreifenden Transformationsprozess – von der Industrie- zur Wissensstadt. Ein Treiber des Wandels ist der Bildungscampus Heilbronn der Dieter Schwarz Stiftung, der zahlreiche renommierte Bildungs- und Forschungseinrichtungen beherbergt. Ein weiterer wird der »Innovation Park Artificial Intelligence«, kurz: IPAI, sein, der ab Ende 2024 im Norden der Stadt auf einer Fläche von 23 Hektar errichtet werden wird und zum größten Ökosystem für Künstliche Intelligenz in Europa heranwachsen soll. Von den Impulsen, die eines Tages von Bildungscampus und IPAI ausgehen werden, soll die Wirtschaft der ganzen Region profitieren. Heilbronn selbst soll sich zum KI-Standort von Weltrang entwickeln – und wird dann mit Zürich, Shanghai oder dem Silicon Valley um internationale Fachkräfte konkurrieren. »Diese Entwicklungen werfen vielfältige Fragestellungen auf, die wir mit unseren Forschungsarbeiten beantworten möchten«, sagt Borkmann. »Vor allem für Heilbronn, aber im Grunde für alle deutschen und auch viele internationale Städte und Regionen.« Um herauszufinden, wie es gelingen kann, dass international gefragte Talente und Fachkräfte in Zukunft in deutschen Städten ein Stück weit heimisch werden und nicht gleich beim nächsten Jobangebot an einen anderen Hotspot umsiedeln, hat das Team um Vanessa Borkmann in einem ersten Schritt eine umfangreiche Recherche zum Thema gestartet. Sie haben vorhandene Studien gesichtet, eine Reihe von Expertinnen und Experten befragt, innovative Wohnangebote in der Praxis analysiert und ihre Ergebnisse im Whitepaper »Trends und Handlungsfelder für gemeinschaftsorientiertes Wohnen« veröffentlicht.

 

 

© Ludmilla Parsyak

Aus unseren Erkenntnissen leiten wir Handlungsempfehlungen für Städte und Regionen ab, die diese Zielgruppe ansprechen möchten.«

Prof. Dr. Vanessa Borkmann, Teamleiterin »Smart Urban Environments« am Fraunhofer IAO

Zu den zentralen Ergebnissen des Papers zählen eine Reihe von Zukunftstrends, die das Team identifiziert hat. Ein Beispiel dafür sind »Multifunktionale Räume«, die auf den Wunsch vieler Menschen reagieren, dass sich Wohnraum über die verschiedenen Lebensphasen hinweg flexibel an ihre Ansprüche anpassen lässt. »Wer als Single nach Deutschland zieht, benötigt zunächst vielleicht nur ein Zimmer«, sagt Borkmann. »Wenn man dann aber in einer Beziehung ist, wäre es praktisch, nicht umziehen zu müssen, sondern einfach ein weiteres Zimmer anzumieten.« Weitere einflussnehmende Trends sind etwa die »Pluralisation der Lifestyles« oder das »Leben in der glokalen Community«. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Talente und Fachkräfte, um die es hier geht, zum einen nach Individualität und Flexibilität in der Lebensgestaltung streben, sich zugleich aber nach gelebter Gemeinschaft in analogen und digitalen Communities sehnen. 

Arbeitgebende, Immobilien- und Stadtentwickler, die diese Zielgruppe künftig ansprechen wollen, müssten deren komplexe Ansprüche verstehen, so Borkmann. Die gebaute Umwelt, vom Micro-Apartment bis zum Fahrradraum, spiele dabei zwar auch eine Rolle, aber längst nicht die einzige. »Mindestens genauso wichtig ist die soziale Umwelt.« Gemeint sind Aktivitäten mit Menschen, die die eigenen Interessen teilen, die Mitgliedschaft in einem Sportverein oder schlicht eine lebendige Nachbarschaft. »Wo Zugezogene untereinander und mit der lokalen Bevölkerung in Kontakt kommen, erhöht sich die Chance, dass sie bleiben«, so Borkmann. Eine zentrale Rolle spielten dabei auch leicht zugängliche Serviceangebote auf digitalen Plattformen – vom Nachbarschaftsnetzwerk, über das man sich eine Bohrmaschine leiht, bis hin zum Chatroom, in dem sich zum Beispiel KI-Entwickler und -Entwicklerinnen aus aller Welt treffen. »Wer die Menschen vor Ort binden will, sollte Angebote schaffen, damit sie sich nicht in Expat-Communities abschotten«, sagt Borkmann. »Das Ziel muss es sein, sie digital und analog, untereinander und mit der lokalen Bevölkerung zu vernetzen – den Austausch zu fördern.«

Passende Angebote entwickeln 

In einem zweiten Schritt haben Borkmann und die anderen am Beispiel Heilbronn konkrete Handlungsfelder zur Förderung moderner Wohnformen identifiziert. »Als Basis haben wir sogenannte Personae, also prototypische Mitglieder der Zielgruppe, entwickelt und ihre jeweiligen Ansprüche formuliert«, so Borkmann. Die sich daraus ergebende Bedarfslage verwandelte das Team schließlich in einen »Future Living Service-Baukasten«, der Stadt- und Immobilienentwicklerinnen und -entwicklern als Fahrplan für die Angebotsentwicklung dienen kann. Hier ist ein Willkommens-Service der Stadt ebenso genannt wie die Bereitstellung einer verlässlichen digitalen Infrastruktur sowie Shared-Mobility-Angebote oder die Möglichkeit, an Aktivitäten im Grünen teilzunehmen.

Erwähnung findet auch der Auf- und Ausbau digitaler und hybrider Communities oder – so banal es klingt – die Bereitstellung von Lagerräumen zur Einlagerung der privaten Besitztümer, beispielsweise während eines temporären Auslandaufenthalts. »Wo man bedeutsame Gegenstände und Erinnerungsstücke wie z. B. das Familienalbum oder das Mountainbike untergebracht hat, da fühlt man sich oft auch zu Hause«, weiß Borkmann. Um die Menschen, um die es gehe, vor Ort zu binden, müssten allerdings alle an einem Strang ziehen – von der Verwaltung über Arbeitgebende bis hin zu Anbietern sogenannter servicierter Wohnangebote. Wenn das gelingt, könnten die innovativen Wohn-Arbeits-Ökosysteme entstehen, die die Stadt von morgen so dringend brauche. Dank der Studie »Future Living 2040+« ist Heilbronn dieser Zukunft schon einen Schritt nähergekommen.

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Forschungsbereich

Stadtsystem-Gestaltung

Lebens- und Stadtwelten von morgen vorausdenken, urbane Infrastrukturen zukunftsfähig entwickeln, Raum und Gesellschaft nachhaltig gestalten – das sind die Fokusthemen des Forschungsbereichs »Statdtsystem-Gestaltung«.

Future Living 2040+

Das Projekt »Future Living  2040+« des Fraunhofer IAO fordert einen ganzheitlichen Blick auf die Stadtentwicklung. Wohnen, Leben und Arbeiten und analoge wie digitale Services sollen zusammen gedacht werden. Dann können sie zu einem innovativen Wohn-Ökosystem beitragen, das Heilbronn nachhaltig prägt und internationale Fachkräfte anzieht, die die Wissensstadt benötigt. Damit das Projekt Erfolg hat, braucht es eine starke Community, im digitalen wie im analogen Raum. Workshops und Konzerte können dabei helfen.

 

Aus dem Magazin »FORWARD

Dieses Feature ist Teil des Magazins 1/24 des Fraunhofer IAO in Kooperation mit dem IAT der Universität Stuttgart.