Forschung im Bevölkerungsschutz
Wenn Menschenleben in Gefahr sind, kommt es auf Minuten an. Inwiefern neue Technologien die Arbeit von Rettungskräften schneller, sicherer und besser machen können, wird derzeit im Rahmen eines Modellprojekts in Ulm getestet. Eine wichtige Rolle spielt dabei die 5G-Mobilfunktechnologie.
Im Juni dieses Jahres ging ein Notruf bei der Einsatzzentrale der Ulmer Feuerwehr ein. »Beim Grillplatz am Maienwald raucht es. Doch mit meinen 76 Jahren komme ich da so schnell nicht mehr hin«, meldete der Anrufer. Um sich ein Bild von der Lage zu verschaffen, entsendeten die Einsatzkräfte zunächst eine Drohne, die wenig später ein gestochen scharfes Live-Video von einer Rauchsäule lieferte, die über dem Grillplatz in den Himmel ragte. Auf einen Löschzug konnten sie in diesem Fall verzichten, denn eine Gefahrenlage gab es nicht: Der Notruf war eine Übung. Der Anrufer, Tobias Güntner, ist Feuerwehrmann. Den Rauch hatte er selbst mit Rauchfackeln erzeugt. Ziel der Aktion: eine automatisierte Drohne unter 5G-Realbedingungen zu testen.
Was im Juni noch ein Testflug war, könnte nicht nur in Ulm bald ein wichtiger Bestandteil echter Einsätze werden. Automatisierte Drohnen könnten hier die Rettungskette verbessern und Feuerwehrleute und Sanitäter mit einer Echtzeit-Bildübertragung des Geschehens versorgen. »Eine solche Drohne ist Gold wert, denn sie kann den Einsatzkräften helfen, sich schon während der Anfahrt ein Bild von der Situation zu machen«, sagt Tobias Güntner, der auch der Leiter der integrierten Ulmer Leitstelle ist, in der jedes Jahr rund 75 000 Notrufe aus der Region eingehen. In Zukunft, so seine Hoffnung, wird er die Drohne bei unübersichtlichen Einsätzen vorschicken können. Dann könnte sie aus der Luft Bilder senden, die anrückende Einsatzkräfte mit wichtigen Informationen versorgen: Brennt eine Gartenlaube, eine Tankstelle oder der ganze Wald? Sind Menschen in Gefahr? Und: Wie kommt die Feuerwehr am schnellsten zum Einsatzort? »Wenn Menschenleben in Gefahr sind, zählt jede Minute«, sagt Tobias Güntner.
Die Übung war Teil des Modellprojekts »5G-Rettungsbürger«, zu dem sich vor drei Jahren insgesamt elf Partner aus Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung zusammengeschlossen haben. Das Ziel der gemeinsamen Anstrengungen: die medizinische Notfallversorgung in Deutschland mithilfe von neuen technischen Lösungen zu verbessern. Um dieses Ziel zu erreichen, arbeiten die Projektpartner in der Modellregion Stadt Ulm, Alb-Donau-Kreis und Kreis Neu-Ulm an neuen Technologien: Da ist eine digitale Übersetzungslösung, ggf. mit Videoanbindung, falls ein Notruf in fremder Sprache abgesetzt wird. Da sind die Drohnen für die Aufklärung bei Notfällen. Und da ist ein System, das die Vitalfunktionen wie den Herzschlag von Einsatzkräften misst und zudem ihre Ortung ermöglicht. Außerdem kann bei einer unübersichtlichen Lage ein mobiles Sensornetz ausgebracht werden, mit dessen Hilfe z. B. die Personenströme bei einer Großveranstaltung gemessen werden können.
»Um solche Innovationen zu entwickeln, muss man die Expertisen von Wissenschaft, Verwaltung, Wirtschaft und Rettungskräften zusammenführen«, sagt Rebecca Litauer vom Fraunhofer IAO, die die wissenschaftlich-technische Projektleitung innehat. »So was lässt sich also nur im Verbund entwickeln.« Und so nehmen am Modellprojekt »5G-Rettungsbürger« zum einen Unternehmen teil, die Soft- und Hardware beisteuern. Ebenso wichtig aber sind eine Verwaltung sowie Rettungskräfte, die couragiert genug sind, neue Lösungen zu testen. »Es geht uns darum, die Arbeit der Rettungsdienste wissenschaftlich fundiert und zugleich praxisnah zu verbessern«, sagt Albert Wiedemann, der das Projekt »5G-Rettungsbürger« für die Stadt Ulm koordiniert. Zudem braucht es Expertinnen und Experten wie das Team vom Fraunhofer IAO, die in der Lage sind, die einzelnen Puzzleteile zu einem funktionierenden System zusammenzufügen. »Im Zuge des Projekts haben wir gemeinsam Tests unter Realbedingungen durchgeführt«, sagt Rebecca Litauer. Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Projekts ist die 5G-Technologie, als Voraussetzung für die Übertragung der immensen Datenmengen des Livestreams in Echtzeit.
»Die Drohne kann uns vor allem bei Einsätzen helfen, die durch ein dynamisches Geschehen erschwert werden«, sagt Tobias Güntner. Wenn etwa ein Ertrinkender in der Donau treibt, können die Rettungskräfte ihn mithilfe der Drohne möglicherweise schneller orten. Auch Rettungseinsätze auf Volksfesten könnten besser koordiniert werden. Ende Juli etwa, wenn Tausende zum »Ulmer Nabada« die Donau in Schlauchbooten und anderen Gefährten hinabtreiben – und Zehntausende Schaulustige die Ufer säumen. Passiert hier ein Unglück, ist die Lage für die Rettungskräfte zunächst mal äußerst unübersichtlich. Die Drohne könnte aufklären, wobei die Sensoren wichtige Erkenntnisse liefern.
Ein weiterer Anwendungsfall des Modellprojekts »5G-Rettungsbürger«, das mit vier Millionen Euro vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr mit gefördert wird, ist eine digitale Übersetzungslösung für Notrufe in einer Fremdsprache. Wenn ein Notruf eingeht, der Anrufer aber nur Kurdisch spricht, mussten die Einsatzkräfte bislang improvisieren. »Wir fragen dann die Polizei, ob sie jemanden haben, der die Sprache spricht. Oder wir haben beim Konsulat angefragt«, sagt Tobias Güntner. Nachts um halb drei sei das jedoch ziemlich aussichtslos. Mit dem Tool, das seit Mai 2023 testweise in der Leitstelle zum Einsatz kommt, habe sich alles verändert. »Die Sätze dürfen nicht zu lang und nicht zu kurz sein, außerdem muss man aufpassen, dass keine Stimmen im Hintergrund übersetzt werden«, so Güntner. »Wenn man einige Regeln befolgt, funktioniert das sehr gut.«
Vor allem der internationale Lieferverkehr, der über deutsche Autobahnen rollt, stellt gewissermaßen ein Sicherheitsrisiko dar. Nicht nur, weil so viele Lastwagen unterwegs sind – allein an Ulm rollen täglich rund 20 000 Lkw vorbei. Sondern auch, weil viele Fernfahrer kein Deutsch oder Englisch sprechen und deshalb kaum in der Lage sind, einen Unfall zu melden.
In Ulm und um Ulm herum ist das jetzt anders: Wenn hier jetzt eine Person hinterm Steuer sitzt, die nur Polnisch spricht, die 112 wählt, wird der Notruf in der Ulmer Leitstelle automatisch in einen deutschen Text übersetzt. So verstehen die Diensthabenden in der Leitstelle, ob der Lastwagenfahrer einen Autounfall meldet oder einen Herzinfarkt erlitten hat. Die Antwort kann über Textbausteine erfolgen oder frei gesprochen werden, eine Computerstimme übersetzt die Nachrichten in die Sprache des Anrufenden. Außerdem kann der Disponent einen Link an den Anrufer versenden, um den Start einer Videoübertragung zu ermöglichen.
Das System und die Nutzeroberfläche entwickelte und lieferte der Projektpartner Frequentis, ein Unternehmen aus Wien, das neben dem Rettungsdienst auch die Flugsicherung mit Kontrollzentralen ausstattet. »Das Unternehmen hat dieses Produkt mittlerweile zur Marktreife gebracht«, sagt Litauer. Das zeigt: Auch Unternehmen profitieren von innovativen Projekten.
Eine weitere Säule des Modellprojekts ist ein System, das Einsatzkräfte orten und ihren Puls messen kann. Die Daten werden in Echtzeit ermittelt und an die Einsatzzentrale übermittelt. »Wenn Feuerwehrleute im Einsatz selbst in Not geraten, kann ein solches System uns helfen, sie zu retten«, sagt Tobias Güntner.
Entwickelt wurde das System am Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS, das ebenfalls zu den Projektpartnern gehört. Die Herausforderung: Das Global Positioning System (GPS) kann für die Ortung nicht genutzt werden. »Das funktioniert in geschlossenen Räumen nicht«, sagt Marc Faßbinder vom Fraunhofer IIS, der das System entwickelt hat. Und so schuf Faßbinder mit seinem Team eine Lösung, bei der sich die Einsatzkräfte über Funkortungstechnik gegenseitig lokalisieren. Dabei kommt Ultrabreitband-Funk zum Einsatz, mit dessen Hilfe gemessen werden kann, in welche Richtung eine Person geht und wie viele Schritte sie macht. »In Tests haben wir eine Genauigkeit von zwei bis drei Metern erreicht«, sagt Faßbinder. Zusammen mit einem Pulsgurt sollen Sender und Sensoren in eine leichte Weste integriert werden, die künftig zur Ausrüstung der Feuerwehr gehören könnte.
Den Feuerwehrmann Tobias Güntner hat Faßbinder von seiner Technik überzeugt. »Vor allem in größeren, verwinkelten Gebäuden liefert uns das System wichtige Informationen«, sagt Güntner. Das Ortungssystem könne die Rettung von Feuerwehrleuten stark beschleunigen. Um Kameraden aus einer akuten Notlage bei starker Rauchentwicklung zu befreien, müssen sich die Rettungstrupps bislang am Löschschlauch entlangtasten, um die Verunglückten zu erreichen. Und das ohne Garantie auf Erfolg, denn der Schlauch könnte eingeknickt sein. Möglich auch, dass die verunglückten Feuerwehrleute sich vom Schlauch entfernt haben.
Durch die Möglichkeit der Ortung verändert sich die Situation grundlegend: Nun kann die Einsatzleitung sehen, wohin die Rettungsteams müssen. Und kann ihnen einen Hinweis geben, wenn sie in die falsche Richtung laufen. »Bei einer Übung hat sich gezeigt, dass das System sehr gut funktioniert«, sagt Güntner. Bis zur Marktreife ist es allerdings noch ein weiter Weg, denn die Technik müsse noch handlicher werden. Bislang hätten die Feuerwehrleute die Komponenten, also Sender, Akku und Pulsgurt, einzeln anlegen müssen.
Auf der Schwäbischen Alb kann man froh sein, wenn der Rettungswagen einen nach 20 Minuten gefunden hat.«
Albert Wiedemann
Leiter der Geschäftsstelle des Projekts »5G-Rettungsbürger«
Dass Minuten über Leben und Tod entscheiden können, weiß auch Albert Wiedemann. In seiner Freizeit fährt der 52-jährige Projektkoordinator der Stadt Ulm Einsätze als Rettungssanitäter. Potenzial für eine schnellere Rettung gebe es insbesondere auf dem Land. Wer in der Ulmer Innenstadt einen Herzinfarkt erleidet, kann nach etwa 20 Minuten in einer Klinik sein. Wenn das auf der Schwäbischen Alb passiere, sagt Wiedemann, könne man mitunter froh sein, wenn der Rettungswagen einen nach 20 Minuten gefunden hat.
Und so hatten Rebecca Litauer und Albert Wiedemann für die Drohne, die von der Berliner Firma Germandrones gestellt wird und bis zu 80 Kilometer weit fliegen kann, ursprünglich einen weiteren Einsatzbereich im Sinn: »Wir hätten sie gerne mit einem Defibrillator oder einem Erste-Hilfe-Set ausgestattet, um das Material schnell zum Unfallort zu bringen«, sagt Litauer. Das hätte insbesondere im ländlichen Raum die medizinische Notfallversorgung verbessern können. Allerdings stoppten rechtliche Hürden die Projektidee, bevor sie überhaupt getestet werden konnte. Von einer Drohne darf nichts abgeworfen werden, denn es könnte jemanden verletzen. Auch ein System mit einer Seilwinde, von der das Erste-Hilfe-Set heruntergelassen werden könnte, ist noch nicht ausgereift. Die Herausforderung: Was passiert, wenn jemand an der Schnur zieht und die Drohne abstürzt? Noch gibt es also Diskussionsbedarf. Zugleich ist allen Beteiligten klar, dass die schnelle Lieferung etwa eines Defibrillators bei einem Herzstillstand, einer Wärmedecke bei einem Ski- oder Wanderunfall in den Bergen oder einer Rettungsboje bei einem Badeunfall helfen könnte, Leben zu retten.
Bislang ist allerdings nicht einmal das autonome Starten und Landen der Drohne in Deutschland erlaubt. Bei der Übung, die die Feuerwehr Ulm im Juni 2023 durchführte, war deshalb ein Drohnenpilot dabei. Er drückte allerdings bloß auf den Start- und Landeknopf, alles andere erledigte die Drohne allein. Dabei würde die Automatisierung wertvolle personelle Ressourcen sparen. Und so sind es weniger technische als gesetzliche und bürokratische Hürden, die Projekte wie »5G-Rettungsbürger« mitunter ausbremsen. »Es wäre viel mehr möglich, als wir in der Praxis umsetzen können«, sagt Rebecca Litauer. Albert Wiedemann von der Ulmer Stadtverwaltung pflichtet ihr bei: »Wir sollten uns gut überlegen, ob wir gerade in Testszenarien immer alles zu 100 Prozent regulieren müssen. In vielen Fällen verhindert dieser Anspruch dringend benötigte Innovation.«