Gründungs- und Innovationsökosysteme
Mit dem Bildungscampus Heilbronn hat die Dieter Schwarz Stiftung einen Ort geschaffen, der Ausbildung, Studium, Forschung und Weiterbildung vereint und vernetzt. In Kombination mit dem geplanten »Innovationspark für Künstliche Intelligenz« könnte Heilbronn zu einem der wichtigsten Innovationsstandorte Deutschlands heranwachsen. Ein Besuch in einem einzigartigen »Ökosystem«.
Autor: Joshua Kocher
Wenn Dr. Bernd Bienzeisler davon erzählt, dass die Welt in Zukunft eine völlig andere sein wird, referiert er in der Regel über Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. An diesem Wintermorgen aber reicht ein Blick aus dem Fenster aus seiner Büroetage, um die Vorläufigkeit alles Bestehenden zu illustrieren. Denn auf dem Gelände, das man von hier aus sieht, werden bald schon neue Forschungsgebäude in die Höhe ragen. Mehrere Tausend Quadratmeter sind geplant, einen Teil werden Bienzeisler und seine Mitarbeitenden dann beziehen. 24 Mitarbeitende zählt das Forschungs- und Innovationszentrum »Kognitive Dienstleistungssysteme« KODIS des Fraunhofer IAO, das Bienzeisler leitet, derzeit. Nach dem Umzug ist Platz für bis zu 150. »Uns beschäftigt
in erster Linie die Frage, wie Daten und Künstliche Intelligenz unser Leben verbessern können«, sagt der promovierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler. Am Wachstum des KODIS lässt sich erkennen: Die Möglichkeiten sind gewaltig. Doch nicht nur das KODIS, auch der Bildungscampus in Heilbronn, auf dem es angesiedelt ist, wächst mit einer rasanten Geschwindigkeit. Innerhalb von nur elf Jahren wurden hier Gebäude für Bildung, Lehre und Forschung mit einer Gesamtgeschossfläche von 120 000 Quadratmetern errichtet, auf denen sich bis heute mehr als zehn Institute, darunter Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie ein Gründerzentrum, angesiedelt haben. Die Technische Universität München, die Duale Hochschule Baden-Württemberg sowie die Hochschule Heilbronn haben hier Standorte. Das Ferdinand-Steinbeis-Institut und die Fraunhofer-Gesellschaft mit dem KODIS sind vertreten. Hinzu kommen eine zweisprachige Ganztagsschule, eine Erzieher- und Weiterbildungsakademie, die Programmierschule »42« sowie Bibliothek, Aula und Mensa. Gefördert von der Dieter Schwarz Stiftung ist das beschauliche Heilbronn in kurzer Zeit zum Standort für Spitzenforschung geworden, Wissenschaftskooperationen mit Stanford, Oxford, Jerusalem, Paris und Zürich inklusive. Das Institut der deutschen Wirtschaft zählte Heilbronn 2021 hinter Berlin zur zweitdynamischsten Stadt Deutschlands. »Was hier passiert«, sagt Bernd Bienzeisler, »ist ein unglaublich spannendes Experiment.«
Dass Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft in Deutschland und im Ausland derzeit so gespannt nach Heilbronn schauen, liegt auch daran, dass der Bildungscampus als »Ökosystem« angelegt ist. In der Biologie beschreibt der Begriff das Zusammenspiel einzelner Organismen innerhalb eines Lebensraums. Bezogen auf Forschung und Innovation steht er für physische oder gedachte Räume, in denen Innovation möglich wird, weil der stete Austausch von Ideen und Gütern zwischen den einzelnen Teilnehmenden gewährleistet ist. Wie Zellwände für Nährstoffe durchlässig sind, so sind es auch die Grenzen zwischen den Mitgliedern solcher Gründungs- oder Innovationsökosysteme. Viele davon entstehen aus eigener Kraft.
Zum Beispiel Berlin: Wegen der niedrigen Lebenshaltungskosten siedelten sich hier einst viele Kreative an. Dann brauchte es nur noch wenige Impulse, bis der Innovationsmotor ansprang. In Heilbronn herrschten andere Bedingungen, aber auch das Ziel ist ein anderes: Hier sollen Bildung, Forschung und Innovation auf einem lebendigen Campus miteinander vernetzt werden. Doch hier wie da gilt: Es geht nur gemeinsam.
Das Beratungs- und Wirtschaftsprüfungsunternehmen Deloitte etwa hat beobachtet, dass Innovation angesichts des technologischen Fortschritts des 21. Jahrhunderts fast nur noch mit der Kraft der Vielen möglich ist – etwa in Ökosystemen. Darunter verstehen die Expertinnen und Experten ein reichhaltiges, anpassungs- und widerstandsfähiges Geflecht von Institutionen, die in verschiedenartigsten Wechselbeziehungen zueinander stehen, von Symbiose über Kollaboration bis Wettbewerb. Vereint erschließen sie neues Wissen und verbinden sich zu einem sich selbst erneuernden System, das Innovation möglich macht. Auch politisch scheint diese Erkenntnis gereift zu sein. So will das Bundesforschungsministerium mit der neuen »Deutschen Agentur für Transfer und Innovation« Ökosysteme gezielt fördern, um innovative Ideen rascher in die Anwendung zu bringen. Längst verbindet sich mit dem Begriff »Ökosystem«, auch und gerade in Deutschland, die Hoffnung auf mehr Innovationsfreude in Wirtschaft und Wissenschaft. Die Frage der Zeit ist also: Wie formt man ein solches Ökosystem?
Fragt man Bernd Bienzeisler, was den Standort Heilbronn für das KODIS so attraktiv macht, nennt er drei Punkte: Erstens: die Chance, hier etwas völlig Neues aufzubauen. Den eigenen Weg gehen und den eigenen Platz finden, rund 60 Kilometer vom Sitz des Haupthauses Fraunhofer IAO in Stuttgart entfernt. Zweitens: das professionelle Management an einem Campus, dessen Alltag von Anfang an nicht als Nebeneinander, sondern als Miteinander gedacht war. Und drittens: die Akteurinnen und Akteure vor Ort, die sich in ihren Kompetenzen ergänzen. »Ich wüsste nicht, wo so viele unterschiedliche Einrichtungen auf so engem Raum zusammenkommen«, sagt Bienzeisler. Das KODIS stehe in diesem Konstrukt für die angewandte Forschung. Aber auch für die Nähe zu Unternehmen und die Akquise von Drittmitteln. »Wir verstehen uns als Ideengeber und Thementreiber.« Aktuell forschen am KODIS 24 Mitarbeitende aus den Bereichen Data Science, Maschinenbau, Stadtplanung sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zu der Frage, wie sich Daten und Künstliche Intelligenz einsetzen lassen, um Arbeitsabläufe und Dienstleistungsprozesse zu optimieren. An vielen Projekten arbeitet das Institut in Kooperation mit Kommunen und Unternehmen. Mit der Stadt Karlsruhe etwa untersuchte KODIS, wie man mit Künstlicher Intelligenz den Parkdruck messen und gestalten kann. Und mit Audi wird erforscht, wie Kameras am Fließband Unregelmäßigkeiten im Autolack erkennen können. Diese »kognitiven Dienstleistungen« folgen einem Vierklang: Daten generieren, Informationen filtern, Zusammenhänge herstellen und Schlussfolgerungen ziehen. »Unser Ziel ist es, Lösungen für die ganz konkreten Herausforderungen unserer Kunden zu entwickeln«, so Bienzeisler.
Eine dieser Lösungen schlummert derzeit in einem dunklen Kellerraum ein paar Stockwerke unter dem Büro von Bernd Bienzeisler. Hier unten dreht Veronika Prochazka einen Schlüssel im Schloss, öffnet die Tür und schaltet das Licht an. An der Wand steht ein Gerät, das ein bisschen an einen »Stummen Diener« erinnert, auf dem man in früheren Zeiten seine Kleidung ablegte. Doch diese Maschine kann mehr. Als Veronika Prochazka mit der Hand über einen Bildschirm fährt, spricht die Maschine zu ihr: »Hi, ich bin Témi.« – »Hi Témi«, antwortet Prochazka, »bring mich zum Aufzug.« Langsam gleitet der Roboter los, durch die Kellertür hinaus auf den Flur, dann um die Ecke zum Aufzug. Dort bleibt er stehen. »Témi kann Menschen über den Campus führen«, sagt Veronika Prochazka. Die 34-jährige Leiterin des Teams »Public Service Innovation« am KODIS hat den Roboter zwar nicht gebaut, ihn aber gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen sowie Studierenden der Dualen Hochschule gewissermaßen zum »Campusführer« ausgebildet. »In einem Integrationsseminar des Studiengangs Wirtschaftsinformatik haben wir Témi beigebracht, Menschen mit Handicap über den Bildungscampus zu leiten.« Ihr Prototyp kann sogar auf unterschiedliche Bedürfnisse eingehen. So ist er in der Lage, Menschen mit Sehbehinderung oder Hörschädigung zu assistieren. Auch Menschen mit einem Tremor, also einem krankhaften Muskelzittern, soll Témi eines Tages eine Alltagshilfe auf dem Campus sein. Vorerst aber steht der Prototyp im Keller. Er wird bald überarbeitet.
Veronika Prochazka lässt Témi zurück, fährt mit dem Aufzug nach oben und marschiert über den Bildungscampus, vorbei an braunen und weißen Bürowürfeln und geschwungenen Grünflächen hinüber zu einem imposanten Glasbau, in dessen gewaltigem Atrium sich eine knallrote Wendeltreppe in die Höhe windet. Auch hier, in der Bibliothek LIV, die sich verschiedene Institutionen auf dem Campus teilen, konnte KODIS mit einer smarten Idee punkten: Wäre es nicht praktisch, wenn man nicht erst durch das ganze Gebäude stiefeln muss, um einen freien Arbeitsplatz zu finden? Also brachten sie Sensoren an den Tischen an und programmierten eine App, die anzeigt, welcher Tisch in welchem Stockwerk gerade frei ist. Das Leben auf dem Campus so einfach wie möglich machen. Und ganz nebenbei Studierende und Forschende in gemeinsamen Projekten zusammenbringen. Das ist das Ziel der »Smart Campus Initiative« von KODIS.
Heilbronn-Franken, wo der Bildungscampus zu Hause ist, ist eine Region der Hidden Champions. Der familiengeführte Mittelstand, im Bereich Maschinenbau und Autoteile etwa, spielt eine große Rolle. Doch seit einiger Zeit haben viele dieser Firmen ein typisch deutsches Problem: das Innovator’s Dilemma. So nannte der US-Wirtschaftswissenschaftler Clayton Christensen bereits 1997 das Phänomen, dass Unternehmen, die in einem Technologiezyklus führend sind, es nur selten schaffen, auch den nächsten Zyklus zu dominieren. Und mit Digitalisierung und E-Mobilität hat längst ein neuer Zyklus begonnen. »Die Transformation fordert gerade die ganze Region heraus«, sagt Micha Andree. Er ist der Geschäftsführer des Vereins »Wissensstadt Heilbronn«, der Bildung und Forschung in der Stadt voranbringen will. Auch dieses Netzwerk ist von der Dieter Schwarz Stiftung gefördert, seine Aufgabe ist gewissermaßen die eines Vermittlers im Ökosystem: Wo es viele Player gibt, braucht es immer wieder auch jemanden, der Leute zusammenbringt und mit einer Stimme spricht. Micha Andree sagt: »Wir brauchen Input, also Forschung und Fachkräfte, um die Tüftlerregion zu beleben.« Eine dieser »Fachkräfte« heißt Marco Limm und sitzt in einem modernen Co-Working-Space zwischen Post-it-Wänden, Fritz-Kola-Kühlschränken und Zimmerpalmen. Der 29-Jährige ist für drei Monate mit seinem Start-up »cre[ai]tion« in die Räume des Gründerzentrums »Campus Founders« auf dem Bildungscampus gezogen, um sein Produkt zu perfektionieren. »Wir bieten eine Plattform an, die mithilfe von Künstlicher Intelligenz Designentwürfe für Produkte wie Schuhe, Uhren oder Autos erstellen kann«, erzählt Limm, der in den USA Automobildesign studiert und später in Deutschland als Designer gearbeitet hat. Mit den Arbeitsprozessen in seinem Beruf konnte er sich nie ganz anfreunden: »Von 100 Rohentwürfen, die ich anfertigen musste, konnte ich oft 97 wieder wegwerfen«, sagt er. »Ein einziger wird ausgearbeitet.« Diesen ersten Schritt der Entwurfsphase kann das von ihm entwickelte Programm übernehmen. Limm arbeitet schon jetzt mit Designerinnen und Designern zusammen, die für Marken wie Adidas, Nike, Mercedes, Braun oder Bang & Olufsen tätig sind. Eigentlich hat das Start-up seinen Sitz in Frankfurt. Doch nun arbeitet Limm mit seinen beiden Kollegen eben in Heilbronn. Sie sind Teil der »AI Founders«, eines dreimonatigen Inkubator-Programms. Die Teilnehmenden bekommen eine Wohnung und Büros gestellt, um vor Ort weiter an ihren Ideen zu arbeiten.
»Im besten Fall bleiben sie in der Region«, sagt Oliver Hanisch, Geschäftsführer der »Campus Founders«. Hanisch hat selbst 14 Jahre lang als Berater und Gründer im Silicon Valley, der »Mutter der Ökosysteme«, gearbeitet und will nun dazu beitragen, dass das Heilbronner Ökosystem gründerfreundlich ist. »Wir haben den Anspruch, so attraktiv zu werden, dass Leute aus anderen Regionen Teil unseres Ökosystems werden wollen.« Seine Vision hat er dabei gewissermaßen von der Bay Area an den Neckar mitgenommen: »Wir wollen Menschen inspirieren, mit einem offenen Mindset ihre Ideen anzugehen. Und nicht in allem die Risiken zu sehen, sondern die Chancen.« Es ist die Anziehungskraft des kreativen Miteinanders Gleichgesinnter, auf das der Bildungscampus setzt. Eine Idee, die sich auch in der »42 Heilbronn« wiederfindet, einer Programmierschule, die so ziemlich alles anders macht als andere Schulen. Es gibt keine Lehrerinnen und Lehrer, keinen Stundenplan und keine Noten. Anstatt in Seminaren zu sitzen, bringen sich die Studierenden alles selbst – und einander – bei. Die Schule ist 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche geöffnet. Das Grundstudium dauert 12 bis 18 Monate, danach steht ein bezahltes Praktikum an. »Die Unternehmen stehen Schlange«, sagt 42-Geschäftsführer Thomas Bornheim. Er hat 14 Jahre für Google in Irland, Indien und den USA gearbeitet, war im Unternehmen für seine unkonventionelle Art bekannt. »Einfach mal machen«, nennt er seine Herangehensweise. Als er mit der bei Google immer mehr aneckte, kam das Angebot, die »42« in Heilbronn zu leiten, erzählt er. Und so steht er jetzt, in Jeans und T-Shirt, zwischen Apple-Computern, Tischtennisplatte und Musikraum mit Instrumenten und sagt: »Heilbronn soll zur Renaissance-Stadt werden, zum Florenz des 21. Jahrhunderts.«
Wenn dieser Plan aufgeht, dann liegt das sicher auch am jüngsten Coup in Heilbronn. Im Sommer 2021 bekam die Stadt den Zuschlag für einen Innovationspark für Künstliche Intelligenz, kurz: Ipai. Finanziert mit je 50 Millionen Euro vom Land und von der Dieter Schwarz Stiftung soll bis 2026 das größte Zentrum für Künstliche Intelligenz in Europa entstehen. Für Heilbronn-Franken wäre das ein weiterer Superlativ: Denn umgeben von Weinbergen sind in der Region rund 100 Weltmarktführer zu Hause. Der Innovationsgeist zieht hier also nicht erst mit dem Bildungscampus ein. Er hat eine lange Tradition.