Das Selbstverständnis von Pflegenden stärken
Aktuell fehlen in Deutschland 130 000 Altenpflegekräfte. 184 Tage dauert es, rund ein halbes Jahr, bis eine offene Stelle besetzt werden kann. Und bis 2049 wird ein Bedarf von 2,15 Millionen erwerbstätigen Pflegekräften bestehen. Verantwortlich ist zum einen der demografische Wandel, die Babyboomer gehen in den nächsten Jahren in den Ruhestand. Doch zum anderen schrecken die schlechten Arbeitsbedingungen ab. Diese gilt es zu verbessern.
»Wir müssen das Selbstverständnis von Menschen stärken, die in der Pflege arbeiten«, sagt Strunck. Pflegende sollten selbstbewusster auftreten und im Rahmen von »Future Care and Services« mutig ausprobieren, welche Aspekte von New Work in ihr Arbeitsfeld passen. Was sich ändern muss, damit die Pflege attraktiver wird, fragte das Team in einer großen Umfrage ab. »Natürlich hat New Work in der Pflege seine Grenzen. Eine Pflegekraft kann nicht ausschließlich im Homeoffice arbeiten«, sagt Risch. Dennoch gebe es Möglichkeiten, Arbeit individueller zu organisieren. Die Einführung von flexiblem Arbeitsbeginn zum Beispiel, wie sie im Karl-Pawlowski-Altenpflegezentrum schon Realität ist.
Veränderungen gemeinsam entwickeln
Die Flexibilisierung der Arbeitszeit ist eine von zahlreichen Maßnahmen, die Pflegeberufe attraktiver zu gestalten. Das Forschungsteam sieht auch in der Digitalisierung der Dienstplanung große Vorteile.
Wenn Dienstpläne erstellt und Schichten per App getauscht werden können, gewinnt der Beruf an Attraktivität.«
Stefan Strunck, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Team »Cognitive Environments« des Fraunhofer IAO
Auch die Möglichkeit, mit Hilfe von digitaler Technik von zu Hause aus an Teamsitzungen teilnehmen zu können, verbessere das Berufsbild insgesamt. Mehr als zwei Drittel der Mitarbeitenden, die das Projektteam befragt hat, würden dieses Angebot in Anspruch nehmen.
Außerdem schlug das Team in der Befragung verschiedene Formen der Selbstorganisation vor. Die Idee dahinter: Wer selbst entscheidet, wie er seine Arbeit organisiert und erledigt, hat ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, das zu Zufriedenheit und Identifikation mit der eigenen Tätigkeit führt. Wo das gegeben ist, steige auch die Bereitschaft der Mitarbeitenden, Verantwortung für das gesamte Team zu übernehmen. 65 Prozent der Befragten gaben an, dass sie Formen der Selbstorganisation gerne umsetzen würden. Wesentlich ist, in kleinen Schritten anzufangen und Veränderungen gemeinsam zu entwickeln, empfiehlt Risch. Diese sind individuell und können entsprechend vielfältig aussehen.
Ein weiteres Themenfeld lautet »Arbeiten im kompetenzorientierten Qualifikationsmix«. Die hier vorgeschlagenen Veränderungen können dazu beitragen, neue Organisationsstrukturen zu entwickeln. »Wir wollen unsere Partner mit den richtigen Werkzeugen beim Experimentieren unterstützen«, sagt Strunck. Aktuell entwickelt das Team ein Planspiel, in dem Mitarbeitende aus Pflegeheimen üben, in neuen, bewohnerzentrierten Rollen zu denken. Das ist wichtig, weil sich Altenpflegeheime gerade ohnehin neu organisieren müssen: Ein neues Personalbemessungsgesetz sieht vor, dass Fachkräfte nur dort eingesetzt werden sollen, wo sie aufgrund ihrer Qualifikation benötigt werden. Aufgaben, die eine geringere Qualifikation erfordern, sollen von Assistenz- oder Hilfskräften übernommen werden. So weit, so gut.
Der Wandel als Chance
Doch in der Praxis stellt sich die Umsetzung des Gesetzes als schwierig dar, denn Pflegekräfte sind generell sehr unterschiedlich ausgebildet. Deshalb reiche, so Risch, der bloße Blick auf die formale Qualifikation nicht aus.
Wir plädieren für einen Qualifikationsmix, bei dem die tatsächlichen Kompetenzen und Stärken der Mitarbeitenden im Vordergrund stehen und auch deren Erfahrung berücksichtigt wird.«
Beate Risch, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team »Cognitive Environments« des Fraunhofer IAO
Joanna Tymoszuk und ihr Team vom Altenpflegezentrum in Recklinghausen sind hier ebenfalls Vorreiter. Als Ergebnis eines Workshops mit dem Fraunhofer IAO haben sie beschlossen, Menschen, die neu ins Heim kommen, stets eine zentrale Ansprechperson zur Seite zu stellen, die ihnen den Start erleichtern soll. Sie koordiniert Pflegeanforderungen, Essenswünsche oder den Kontakt mit der Familie. Zuvor waren es mehr als zehn Mitarbeitende, die den oder die Neue in den ersten Tagen kennenlernten. »Die neue Rollenverteilung schafft klare Verantwortlichkeiten auf Seiten der Belegschaft. Und sie hilft neuen Bewohnerinnen und Bewohnern, bei uns anzukommen«, sagt Tymoszuk. Ein Beispiel, das zeigt, wie der angestrebte Wandel in der Pflege zu einer echten Chance werden kann.