Mehr Wirksamkeit, mehr Wertschöpfung

New Work in der Altenpflege

Wie lässt sich die Attraktivität von Pflegeberufen steigern? Das Projekt »Future Care and Services« fordert ein Umdenken in der Branche. Im Fokus stehen eine kundenzentrierte Organisation und mehr Kompetenzorientierung im Personalmix.

Vor dem Karl-Pawlowski-Altenzentrum im Osten von Recklinghausen spenden Bäume Schatten, Bewohnerinnen und Bewohner sitzen auf Bänken, hinter dem Haus wogen die Ähren eines Weizenfelds. Ruhig ist es, fast idyllisch. Ein idealer Ort zum Arbeiten, könnte man meinen. Doch das Haus hat seine liebe Mühe, Pflegerinnen und Pfleger zu finden.

Dass der Fachkräftemangel die Pflegebranche in Deutschland hart trifft, ist nichts Neues. Neu ist, wie sie diesem Problem in Recklinghausen begegnen. Joanna Tymoszuk, Leiterin des Karl-Pawlowski-Altenzentrums, bietet ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern flexible Arbeitszeiten an. »Wer seine Kinder morgens in den Kindergarten bringen muss, kann bei uns auch erst um 08:30 Uhr anfangen«, sagt Tymoszuk.

Beate Risch, Petra Gaugisch und Stefan Strunck vom Fraunhofer IAO sehen darin ein wichtiges Mittel, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen. Die drei wissenschaftlichen Mitarbeitenden treiben das Projekt »Future Care and Services« voran. Neben dem Evangelischen Johanneswerk, dem Träger des Karl-Pawlowski-Altenzentrums, nehmen 14 weitere Partnerinnen und Partner daran teil. Darunter sind Träger von Pflegeeinrichtungen, Versicherer und Technikunternehmen. Die Wissenschaftlerinnen und der Wissenschaftler setzen auf Aspekte von New Work, also moderne und flexible Formen der Arbeit, um die Pflegebranche für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wieder attraktiver machen.

© Martin Albermann
Gegen den Fachkräftemangel: Stefan Strunck, Petra Gaugisch und Beate Risch vom Fraunhofer IAO wollen Pflegeberufe attraktiver gestalten.
Innovation beschleunigen
Im Rahmen des Projekts hat das Forschungsteam die TRIZ-Methode angewandt, deren Name sich aus den Anfangsbuchstaben der russischen Worte »Teoriya Resheniya Izobretatelskikh Zadatch« zusammensetzt. Übersetzt bedeutet das: »Theorie des erfinderischen Problemlösens«. Die Idee hinter TRIZ geht auf die russischen Wissenschaftler Genrich Saulowitsch Altschuller und Rafael Borissowitsch Shapiro zurück, die in den 1940er Jahren einen Weg suchten, Erfindungen nicht mehr dem Zufall zu überlassen, sondern planmäßig zu entwickeln. Das Forschungsteam nutzte daraus das Prinzip der Umkehr. Um Schritte zu ermitteln, die zum Erfolg des geplanten Projekts führen könnten, wurden in Workshops zunächst Maßnahmen gesammelt, die das Projekt definitiv scheitern lassen würden. Danach wurde untersucht, welche dieser »Negativ«-Maßnahmen aktuell gelebt werden, um schließlich gezielte Schritte zur Steigerung des Projekterfolgs zu entwickeln.

Das Selbstverständnis von Pflegenden stärken

Aktuell fehlen in Deutschland 130 000 Altenpflegekräfte. 184 Tage dauert es, rund ein halbes Jahr, bis eine offene Stelle besetzt werden kann. Und bis 2049 wird ein Bedarf von 2,15 Millionen erwerbstätigen Pflegekräften bestehen. Verantwortlich ist zum einen der demografische Wandel, die Babyboomer gehen in den nächsten Jahren in den Ruhestand. Doch zum anderen schrecken die schlechten Arbeitsbedingungen ab. Diese gilt es zu verbessern.

»Wir müssen das Selbstverständnis von Menschen stärken, die in der Pflege arbeiten«, sagt Strunck. Pflegende sollten selbstbewusster auftreten und im Rahmen von »Future Care and Services« mutig ausprobieren, welche Aspekte von New Work in ihr Arbeitsfeld passen. Was sich ändern muss, damit die Pflege attraktiver wird, fragte das Team in einer großen Umfrage ab. »Natürlich hat New Work in der Pflege seine Grenzen. Eine Pflegekraft kann nicht ausschließlich im Homeoffice arbeiten«, sagt Risch. Dennoch gebe es Möglichkeiten, Arbeit individueller zu organisieren. Die Einführung von flexiblem Arbeitsbeginn zum Beispiel, wie sie im Karl-Pawlowski-Altenpflegezentrum schon Realität ist.

Veränderungen gemeinsam entwickeln

Die Flexibilisierung der Arbeitszeit ist eine von zahlreichen Maßnahmen, die Pflegeberufe attraktiver zu gestalten. Das Forschungsteam sieht auch in der Digitalisierung der Dienstplanung große Vorteile.

 

 

Wenn Dienstpläne erstellt und Schichten per App getauscht werden können, gewinnt der Beruf an Attraktivität.«

Stefan Strunck, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Team »Cognitive Environments« des Fraunhofer IAO

Auch die Möglichkeit, mit Hilfe von digitaler Technik von zu Hause aus an Teamsitzungen teilnehmen zu können, verbessere das Berufsbild insgesamt. Mehr als zwei Drittel der Mitarbeitenden, die das Projektteam befragt hat, würden dieses Angebot in Anspruch nehmen.

Außerdem schlug das Team in der Befragung verschiedene Formen der Selbstorganisation vor. Die Idee dahinter: Wer selbst entscheidet, wie er seine Arbeit organisiert und erledigt, hat ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, das zu Zufriedenheit und Identifikation mit der eigenen Tätigkeit führt. Wo das gegeben ist, steige auch die Bereitschaft der Mitarbeitenden, Verantwortung für das gesamte Team zu übernehmen. 65 Prozent der Befragten gaben an, dass sie Formen der Selbstorganisation gerne umsetzen würden. Wesentlich ist, in kleinen Schritten anzufangen und Veränderungen gemeinsam zu entwickeln, empfiehlt Risch. Diese sind individuell und können entsprechend vielfältig aussehen.

Ein weiteres Themenfeld lautet »Arbeiten im kompetenzorientierten Qualifikationsmix«. Die hier vorgeschlagenen Veränderungen können dazu beitragen, neue Organisationsstrukturen zu entwickeln. »Wir wollen unsere Partner mit den richtigen Werkzeugen beim Experimentieren unterstützen«, sagt Strunck. Aktuell entwickelt das Team ein Planspiel, in dem Mitarbeitende aus Pflegeheimen üben, in neuen, bewohnerzentrierten Rollen zu denken. Das ist wichtig, weil sich Altenpflegeheime gerade ohnehin neu organisieren müssen: Ein neues Personalbemessungsgesetz sieht vor, dass Fachkräfte nur dort eingesetzt werden sollen, wo sie aufgrund ihrer Qualifikation benötigt werden. Aufgaben, die eine geringere Qualifikation erfordern, sollen von Assistenz- oder Hilfskräften übernommen werden. So weit, so gut.

Der Wandel als Chance

Doch in der Praxis stellt sich die Umsetzung des Gesetzes als schwierig dar, denn Pflegekräfte sind generell sehr unterschiedlich ausgebildet. Deshalb reiche, so Risch, der bloße Blick auf die formale Qualifikation nicht aus.

 

 

Wir plädieren für einen Qualifikationsmix, bei dem die tatsächlichen Kompetenzen und Stärken der Mitarbeitenden im Vordergrund stehen und auch deren Erfahrung berücksichtigt wird.«

Beate Risch, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team »Cognitive Environments« des Fraunhofer IAO

Joanna Tymoszuk und ihr Team vom Altenpflegezentrum in Recklinghausen sind hier ebenfalls Vorreiter. Als Ergebnis eines Workshops mit dem Fraunhofer IAO haben sie beschlossen, Menschen, die neu ins Heim kommen, stets eine zentrale Ansprechperson zur Seite zu stellen, die ihnen den Start erleichtern soll. Sie koordiniert Pflegeanforderungen, Essenswünsche oder den Kontakt mit der Familie. Zuvor waren es mehr als zehn Mitarbeitende, die den oder die Neue in den ersten Tagen kennenlernten. »Die neue Rollenverteilung schafft klare Verantwortlichkeiten auf Seiten der Belegschaft. Und sie hilft neuen Bewohnerinnen und Bewohnern, bei uns anzukommen«, sagt Tymoszuk. Ein Beispiel, das zeigt, wie der angestrebte Wandel in der Pflege zu einer echten Chance werden kann.

Weitere Informationen

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Zum Projekt

New Work in der Altenpflege

Im Verbundprojekt »Future Care and Services (FuCaSe)« erforscht das Fraunhofer IAO gemeinsam mit Partner aus der Pflege, der Versicherungsbranche und Technologieunternehmen die Zukunft der Pflege.

Forschungsergebnisse

Kostenlose Studie

Die Studie »Chancen und Potenzialen von New Work in der Altenhilfe« zeigt, wie Pflege in Deutschland zukunftsfähig gestaltet werden kann.

Leistungen

Pflegekonzepte der Zukunft

Wir widmen uns seit 15 Jahren dem Thema der Seniorenversorgung aus wissenschaftlicher Sicht. Wir forschen für Sie, entwickeln Konzepte oder setzen konkrete Lösungen für Sie um.

 

Aus dem Magazin »FORWARD

Dieser Beitrag ist Teil des Magazins 2/24 des Fraunhofer IAO und des IAT der Universität Stuttgart.