Leben ist Veränderung

Im Gespräch

© Martin Albermann
Als Vermittler gefragt: Martin Braun (links) und Stefan Rief beraten und begleiten immer wieder Unternehmen bei Transformationsprozessen. Oft geht es dabei darum, Produktivität und menschliche Ansprüche in ein gesundes Gleichgewicht zu bringen.

In Zeiten des Umbruchs verändert sich auch die Arbeitswelt rasant. Wie lässt sich diese Entwicklung steuern? Und wohin möchten wir eigentlich? Die Arbeitswissenschaftler Dr. Martin Braun und Dr. Stefan Rief über die Frage, was »gute Arbeit« ist.

Herr Braun, Herr Rief, Versuche, die Arbeitswelt zu gestalten, laufen häufig unter dem Schlagwort »New Work«. Was verstehen Sie unter diesem Begriff?

Martin Braun: Ursprünglich geht der Begriff »New Work« auf den österreichisch-amerikanischen Philosophen Frithjof Bergmann zurück. Bergmann hatte in den 1970er Jahren eigene Erfahrungen sowohl in kommunistischen als auch kapitalistischen Arbeitsformen gesammelt und entdeckte in beiden Systemen gewisse Merkmale von lähmender Fremdbestimmung. Er zog den Schluss, dass Arbeit, die keine individuelle Sinnhaftigkeit vermittle, nicht nachhaltig sei. Menschliche Arbeit, postulierte er, müsse durch Selbstständigkeit, Freiheit, kulturelle Werte und Teilhabe an der Gemeinschaft gekennzeichnet sein. Heute bezieht sich zwar kaum etwas, wo »New Work« draufsteht, direkt auf Bergmann. Aber es ist etwas in Bewegung gekommen. Neue Formen von Arbeit, die dem Einzelnen mehr Eigenständigkeit ermöglichen, aber auch Verbindlichkeit gegenüber den Kundenbedürfnissen einfordern, werden erprobt. Wohin die Reise geht, ist aber nicht ganz klar.

Stefan Rief: Ich denke auch, dass die weite Verbreitung des Begriffs »New Work« kein klar definiertes Konzept, sondern zunächst einmal Ausdruck eines Veränderungswunschs ist. Was genau »New Work« bedeutet, ist so schwer zu fassen, weil jeder sozusagen seine eigenen Wünsche in den Begriff hineinliest. Und tatsächlich umfasst der Begriff mehrere Gestaltungsfelder. Eines davon ist die Flexibilisierung von Arbeit – und damit verbunden: Themen wie Verantwortung, Führung, Selbstführung oder Kommunikation im Team. Es gibt noch weitere Dimensionen von »New Work«, die aber alle dasselbe Ziel verfolgen: Es geht darum, die Voraussetzungen für »gute Arbeit« zu schaffen. Wie das gelingen kann, ist die Frage, mit der sich die Arbeitswissenschaft beschäftigt.

Martin Braun: Ich würde noch ergänzen, dass es im Kontext von »New Work« eine Schieflage gibt. Es wird vornehmlich über neue Arbeitsformen mit erweiterten raum-zeitlichen Freiheitsgraden gesprochen, etwa im Homeoffice. Aber was ist eigentlich mit den Menschen, die nicht im häuslichen Büro arbeiten oder ihre Arbeitszeit flexibel beeinflussen können, wie Busfahrerinnen, Paketboten oder Altenpfleger? Die geraten leicht aus dem Blickfeld und erleben ihre Arbeit als benachteiligend. Eine derart mangelnde Wertschätzung mündet allerdings häufig in Demotivation. Dabei gibt es auch hier spannende Ansätze wie flexible Schichtmodelle. Eine Frage ist auch, wie es gelingen kann, Menschen, die vornehmlich alleine arbeiten, ab und zu in Kontakt zu ihren Kolleginnen und Kollegen zu bringen. Gemeinschaft kann der Arbeit einen motivierenden Sinn verleihen, um gute Leistungen für die Kunden zu erbringen.

Dann versuchen wir uns doch mal an einer Definition: Was macht »gute Arbeit« Ihrer Ansicht nach aus?

Stefan Rief: Da muss man zwischen drei Ebenen unterscheiden. Zunächst mal muss Arbeit für mich als Individuum gut sein. Das ist der Fall, wenn ich merke, dass ich etwas leiste, mich entwickeln kann und in einer Gemeinschaft eingebettet bin. Auf einer anderen Ebene muss Arbeit aber auch für die Organisation, für das Unternehmen »gut«, also wertschöpfend sein. Und auf einer dritten Ebene ist es sicher auch wünschenswert, dass eine Arbeit »gut« für die Gesellschaft ist, dass sie etwas zu einer nachhaltigeren Gesellschaft beiträgt.

Martin Braun: Damit ist eigentlich schon alles gesagt. Vielleicht ist die Systematik erwähnenswert, mit der wir als Wissenschaftler auf menschliche Arbeit blicken. Wir sehen da zunächst mal, dass Arbeit an ihrem Ergebnis oder Outcome gemessen wird. »Gute Arbeit« ist also eine Arbeit, die den Kundenansprüchen an Qualität, Zuverlässigkeit, Schnelligkeit und Ökoeffizienz genügt. Zugleich ist »gute Arbeit« aber auch Arbeit, die menschengerecht ist. Was das ist, hat die Arbeitswissenschaft klar definiert. Da ist die physische Dimension, um Sicherheit und körperliche Unversehrtheit zu gewährleisten. Dann die psychisch-geistige Dimension, die besagt, dass Arbeit den Menschen ermöglicht, zu lernen und sich durch eine Auseinandersetzung mit Arbeit weiterzuentwickeln. Und schließlich die soziale Dimension: Menschen sind Gemeinschaftswesen, der Austausch und die Kommunikation mit anderen Menschen ist für sie eine Quelle der Inspiration, des Lernens und der Motivation. Die Arbeitswissenschaft sucht nach Wegen, wie diese vielfältigen Faktoren von Arbeit in ein gesundes Gleichgewicht gebracht werden können.

Stefan Rief: Gerade die positiven Aspekte von Arbeit geraten übrigens oft in Vergessenheit. Menschen nehmen Arbeit viel zu oft als zeitraubende Mühsal wahr. Dabei bedeutet Arbeit im besten Fall eben auch Gemeinschaft. Arbeit war schon immer auch ein Ort des Miteinanders. Oder: ein Ort, an dem man lernt, das Miteinander auszuhalten. Und ein Ort, an dem Wissen und Kultur weitergegeben werden. Das gilt im Übrigen auch für Geschäftsreisen oder Business-Events. Wer sich neuen Einflüssen aussetzt, kommt auf neue Ideen. Und gerade in Zeiten des Umbruchs ist Innovation ja in besonderem Maße gefragt. Dieser Blick auf Arbeit als soziales System geht in Zeiten des Booms hybrider Arbeitsmodelle ein wenig verloren.

Sie sprechen die Umbrüche an, auf die Unternehmen derzeit reagieren müssen. Welches sind Ihrer Meinung nach die zentralen Treiber des Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft?

Stefan Rief: Der zentrale Treiber des Wandels ist die Digitalisierung. Sie verändert Arbeitsplätze, Geschäftsmodelle, ganze Märkte. Auch die Energiewende und die klimafreundliche Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft mit Wärmepumpe, Elektromobil und grünem Wasserstoff etwa bringen große Veränderungen mit sich. Fast jeder Arbeitsplatz in Deutschland wird in Zukunft von diesen Veränderungen betroffen sein, und die Frage ist: Wie bilden wir die Leute weiter? Wie sorgen wir dafür, dass sie nicht den Anschluss verlieren? Ein weiterer Punkt ist der demografische Wandel. Wenn die Babyboomer in Rente gehen, müssen wir die Arbeit in diesem Land mit viel weniger Leuten schaffen. Ein vierter Treiber sind unterschiedliche Krisen wie die Pandemie oder die Energiekrise in Folge des Ukraine-Kriegs. All diese Entwicklungen und Umbrüche fordern von uns allen enorme Anpassungsleistungen. Veränderung ist aber nur möglich, wenn wir anfangen, zu experimentieren und Erfahrungen zu sammeln.

Martin Braun: Die Umbrüche und Krisen, die wir erleben, bringen Unsicherheiten mit sich, und das empfinden wir selbstverständlich als unangenehm. Zugleich müssen wir uns von dem Gedanken verabschieden, dass wir die Zeit irgendwie anhalten können. Leben ist Veränderung. Das ist zuweilen zwar fordernd, gibt uns aber die Gelegenheit, unsere Lebenswelt immer wieder zu reflektieren und neu zu gestalten. Dafür müssen wir die menschlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten erkennen und nach situationsgerechten Lösungen suchen. Der »one best way«, der vor einem Jahrhundert von Frederick Taylor propagiert wurde, ist nicht mehr gangbar. Agile Arbeitsweisen setzen auf die praktische Intelligenz sowie die Anpassungsfähigkeit der Menschen und schaffen hierfür geeignete Arbeitsbedingungen.

 

 

Es geht darum, die Voraussetzungen für ›gute Arbeit‹ zu schaffen.«

Dr. Stefan Rief Forschungsbereichsleiter Organisationsentwicklung und Arbeitsgestaltung am Fraunhofer IAO
© Martin Albermann

Wie können Sie Unternehmen unterstützen, die sich verändern wollen?

Martin Braun: Um das zu beantworten, muss ich etwas ausholen. Zunächst mal ist die Annahme irreführend, dass ein außenstehender Experte mit fixen Patentlösungen die betrieblichen Herausforderungen lösen könnte. Veränderungen erfolgen zumeist in iterativen Prozessen. Die Vorstellung, dass ursächliche Maßnahmen und Wirkungen in einem linearen Verhältnis stehen, mag für Maschinen stimmen. Der Mensch ist aber keine äußerlich gesteuerte Maschine. Sein Verhalten ist wesentlich intrinsisch geprägt. Und üblicherweise betrachten wir nicht nur einzelne Menschen, sondern ein Team oder gar eine ganze Belegschaft. So bekommt man eine Vorstellung, wie die Komplexität der sozialen Beziehungen zunimmt, und damit auch mögliche Interessenskonflikte. Wenn man nun in ein Arbeitssystem steuernd eingreift, kann das unbeabsichtigte Folgen haben. Allerdings ist ein Unternehmen auf absichtsvolle Entscheidungen und verlässliche Planungen angewiesen, um kundenorientiert wirken zu können. Daher schauen wir uns die Kernprozesse eines Unternehmens an. Wir sprechen mit dem Management, mit Fachexperten, mit Mitarbeitenden und Betriebsräten und entwickeln auf diese Weise ein Verständnis der Interessen, Herausforderungen und Lösungswege. Letztlich geht es darum, mittels organisatorischer und technischer Maßnahmen die Einzelbeiträge der arbeitenden Menschen so zusammenzuführen, dass die koordinierten Arbeitsergebnisse sowohl den Ansprüchen der Kunden als auch den Leistungs- und Entwicklungsansprüchen der arbeitenden Menschen gerecht werden. Insofern sind wir Arbeitswissenschaftler ein Stück weit immer auch als Vermittler gefragt.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Martin Braun: Ein Beispiel ist die Firma PR-Tronik, die wir dabei unterstützt haben, ihre Intralogistik neu zu gestalten (Seite 26). Ausgangslage waren flexibilisierte Anforderungen der Kundenmärkte, aber auch der demografische Wandel, das heißt, dass immer mehr erfahrene Mitarbeiter in den Ruhestand gingen. Wir haben die Themen Qualifikation, Kommunikation und Motivation der Mitarbeitenden angeschaut und daraufhin Maßnahmen zur ergonomischen Arbeitsplatzgestaltung und zu digitalisierten Informationsprozessen ausgearbeitet. Wir sprechen hier von »soziotechnischer Systemgestaltung«, das heißt, wir untersuchen die Wechselwirkungen von technischer Innovation und menschlichen Faktoren. Unser Anspruch ist es, eine gesunde Balance zu finden zwischen Produktivität und Humanorientierung.

Stefan Rief: Tatsächlich brauchen die Prozesse, die wir anstoßen, eine gewisse Zeit. Wenn wir eine Organisation zu verändern versuchen, dann führen wir mehrere Interventionen durch, die kurz-, mittel- und langfristig wirken. Dabei beobachten wir systematisch, was passiert und welche positiven Wirkungen eintreten. Mit der Fülle aus zahlreichen wissenschaftlich begleiteten Projekten, aber auch theoretischen Studien und Experimenten unterstützen wir unsere Kunden, sich nachhaltig zu verändern.

Angenommen, Sie sind auf einer Party, und jemand fragt Sie, was ein Arbeitswissenschaftler macht? Wie lautet Ihre kurze Antwort?

Stefan Rief: Ich würde sagen: »Das ist die Wissenschaft darüber, wie man Menschen so motiviert und Arbeit so gestaltet, dass Neues schneller entsteht. Um das zu erreichen, müssen wir Selbstwirksamkeit stärken und Entwicklungspotenziale fördern. Wir müssen, vereinfacht gesagt, dafür sorgen, dass Arbeit einfach auch Spaß macht.«

Martin Braun: Wenn es eine Grillparty ist, würde ich zurückfragen: »Woher weißt du eigentlich, dass dein Gasgrill nicht gleich in die Luft fliegt?« Eben: Weil es Vorgaben der Arbeitssicherheit gibt. Im Grunde sind wir, ohne es zu merken, umgeben von Dingen, die ergonomisch getestet und sicherheitstechnisch geprüft sind. Und dahinter stecken die Erkenntnisse der Arbeitswissenschaft. Das ist natürlich nur ein Einzelaspekt. Im Kern geht es darum, Arbeit zum Nutzen des Menschen zu gestalten.

Behind the Scenes: Martin Braun und Stefan Rief während ihres Interviews

Im Video fassen sie die drei zentralen Transformationsfelder der Arbeitswissenschaft zusammen.

Weitere Informationen

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Dr. Martin Braun

studierte Maschinenwesen mit Vertiefung Arbeitswissenschaft und Fabrikbetriebslehre. Erste Berufserfahrungen sammelte er als Hochschulassistent an der Universität Stuttgart, an der er 2003 auch promoviert wurde. Seit 1999 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer IAO tätig. Berufsbegleitend erwarb er die sicherheitstechnische Fachkunde. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Feld der menschengerechten Arbeitsgestaltung. Umfangreiche Erfahrungen erwarb er in produzierenden Unternehmen, bei Dienstleistern und in der öffentlichen Verwaltung. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Stuttgart und der Fernhochschule Hamburg sowie Autor zahlreicher Fachpublikationen.

Forschungsbereich

»Mensch-Technik-Interaktion«

Dr. Martin Braun ist am Teil des Forschungsbereichs »Mensch-Technik-Interaktion«. Dort arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschafter an Lösungen, die ein effizientes Zusammenspiel von Mensch und intelligenter Technik ermöglichen: bei der Arbeit, im Fahrzeug, zuhause oder unterwegs. Sie gestalten menschzentrierte Innovationsprozesse und entwickeln bedarfsgerechte Konzepte für die IT-Sicherheit.

Dr. Stefan Rief

verantwortet den Forschungsbereich »Organisationsentwicklung und Arbeitsgestaltung« am Fraunhofer IAO. Seit über einer Dekade erforscht und begleitet er dort die Entwicklungen in der Büro- und Wissensarbeit. Er ist Coautor und Mitherausgeber zahlreicher Publikationen wie z. B. »Arbeitswelten 4.0«, »Faszination Coworking«, »Corporate Innovationlabs« und ganz aktuell »Connected Work Innovation Hub«. An den Universitäten Stuttgart und Hannover unterrichtet er als Dozent das Fach Arbeitsgestaltung im Büro.

Die interdisziplinären Teams des Forschungsbereichs »Organisationsentwicklung und Arbeitsgestaltung« entwickeln Arbeits- und Lebensräume, die Wohlbefinden, Leistungsfähigkeit und Innovationskraft stimulieren.

 

Projekt

CoCo – Connect & Collect

Mit CoCo unterstützen wir die Vernetzung von Akteuren der Arbeitsforschung, um Ideen zu bündeln und Perspektiven einer innovativen Arbeitsgestaltung zu eröffnen. Die Akteure haben sich in den »Regionalen Kompetenzzentren der Arbeitsforschung« zusammengeschlossen. Ihre bundesweite Vernetzung wird durch das digitale »Netzwerk der Arbeitsforschung« unterstützt.

 

Projekt

Die hybride Arbeitswelt in Sprints gestalten

Die Arbeitswelt verändert sich so schnell und tiefgreifend wie nie zuvor. Neue Märkte und Technologien stellen für viele Unternehmen bereits eine Herausforderung dar. Das Projekt »Connected Work Innovation Hub« bietet eine Plattform für die Entwicklung gemeinsamer Ideen und Handlungsmodelle, die innovativ und nachhaltig sind.

 

Innovationsnetzwerk

Zukunft der Arbeit

Im Innovationsnetzwerk Office 21® erforschen wir den Wandel der Arbeitswelt und entwickeln konkrete Handlungsoptionen zur erfolgreichen Gestaltung und Einführung dieser zukünftigen Arbeitswelt in den Unternehmen.

Literatur

Die »fehlende Mitte« der Arbeitsforschung

Der 70. GfA-Frühjahrskongresses fand an der Universität Stuttgart statt. Im Beitrag werden die dort präsentierten Themen bibliometrisch analysiert.

 

Aus dem Magazin »FORWARD

Dieses Interview ist Teil des Magazins 2/24 des Fraunhofer IAO und des IAT der Universität Stuttgart.