Unter dem Motto »besser verbunden« fand letztes Wochenende die zweite Stuttgarter Mobilitätswoche über das gesamte Stadtgebiet verteilt statt. Die Veranstaltung zielt darauf ab, einen bewussten Umgang mit allen Mobilitätsformen zu fördern und über innovative und nachhaltige Mobilität zu informieren. Unter den zahlreichen Veranstaltern war auch das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. Das Forschungsteam war mit einer Art Forschungswerkstatt vor Ort, um mit den Bürgerinnen und Bürgern neue Raumnutzungskonzepte auszuprobieren und zu gestalten. »Wir brauchen eine neue Gestaltung von Verkehrsräumen, die die Verkehrs- und Klimawende unterstützen und nicht über Verbote oder dogmatisches ›Entweder-Oder‹ zwischen Pkw und Umweltverbund funktionieren, sondern über Motivation, Spaß und Empathie«, so Steffen Braun, Leiter des Forschungsbereichs Stadtsystem-Gestaltung am Fraunhofer IAO. Bei der 72h-Forschungswerkstatt handelte es sich um eine erste Maßnahme im Rahmen des Forschungsprojekts »ARTUS – Artification of Urban Spaces«. Dieses hat zum Ziel, bis Ende 2023 ein Promille der Stuttgarter Verkehrsflächen – also 1,7 Hektar (entspricht etwa 2,5 Fußballfeldern) – mit einem co-kreativen Ansatz in soziale Begegnungsräume mit Anreizfunktion für nachhaltige Mobilität und vor allem hoher gestalterischer Qualität durch Designinnovationen zu verwandeln.
Anderes Verständnis von öffentlichen Räumen in Gesellschaft schon vorhanden
Mehr als 100 Kinder und Erwachsene haben am Septemberwochenende die Forschungswerkstatt besucht und teilweise auch mitgestaltet. Das Forschungsteam stellte anhand vieler Gespräche fest, dass bereits ein ganz anderes Verständnis für den öffentlichen Raum abseits des Automobils in der Gesellschaft besteht. »Die Menschen haben uns geschildert, was ihrer Wahrnehmung nach in den Stuttgarter Straßen fehlt«, berichtet Catalina Diaz vom Fraunhofer IAO. »Viele Kommentare gingen in Richtung Fahrrad- und grüne Infrastruktur, aber auch Cafés und Sitzmöglichkeiten mit Bäumen in der Nähe wurden häufig genannt. Wir bekamen auch eine Reihe von Vorschlägen dazu, wo welche Straßen in Stuttgart neu definiert werden sollten«. Zusammenfassend wünschen sich die Bürgerinnen und Bürger Straßen, die hauptsächlich Grün-/Spielflächen, Platz für Fahrräder und Menschen sowie gastronomische Angebote und wenig Platz für Autos bieten. Heutzutage zeigt sich jedoch ein anderes Bild: Fast 80 Prozent des Straßenraums werden für ruhenden und fließenden Verkehr genutzt, während lediglich 20 Prozent für Fahrräder, den Fußverkehr und Grünflächen zur Verfügung stehen. Demgegenüber wünschte sich die Mehrheit der Teilnehmenden in der begleitenden Erhebung, nur max. 30 bis 40 Prozent des verfügbaren Platzes in einer Straße für Mobilität zu nutzen (weniger für Autos, hauptsächlich für Fahrräder und Fußverkehr), und den überwiegenden Rest auf Freizeitangebote, Sitz-/Spielflächen und Grünflächen zu verteilen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Fraunhofer IAO sehen daher ein großes Potenzial in co-kreativen Veränderungsprozessen.
Straßenraum als Chance für ein neues Miteinander
»Gerade in der Hohe Straße hat sich uns das enorme Potenzial des Straßenraums im Rahmen eines partizipativ-interaktiven Raums offenbart«, erklärt Felix Fabian Stroh vom Fraunhofer IAO. »Ein Raum, der heute überwiegend als Abstellfläche für Pkw genutzt, grau und kalt erscheint, kann mit etwas Farbe, Begeisterung und Aktionismus schnell umgestaltet werden.« Dabei sollte es aus Sicht des Forschers in Zukunft weniger um statische Lösungen gehen, sondern viel mehr um dynamische, spielerische oder temporäre, die sich je nach Bedarf verändern lassen – und dennoch StVO-konform sind. Diese Vorstellung spiegelte sich auch in den Äußerungen der Teilnehmenden des Kreativformats wider, bei denen Modularität und Flexibilität hoch im Kurs stand, um die räumliche Dominanz der vielen abgestellten Fahrzeuge aufzubrechen. Als neue mögliche Straßenelemente wurden genannt: herunterfahrbare (bepflanzt) Poller, grüne Aufenthaltsinseln, Baumreihen, die in die Fahrbahn hineinragen, Sitzgelegenheiten, Büchertauschregale und Spiel- und Gestaltungsflächen für Kinder und Kreative. Und nicht zuletzt bietet der Straßenraum auch die Chance, ganz neue Funktionen zu integrieren, die bei dieser Forschungswerkstatt thematisiert wurden: Beispielsweise können auf einem Quadratmeter Straße mehrere 100 Kilowattstunden erneuerbarer Strom pro Jahr erzeugt werden oder mehrere Kilogramm an klimaneutralen Lebensmitteln. Ebenso kann eine entsprechende Oberflächengestaltung von Straßen auch dazu beitragen, Unfälle zu vermeiden und die Verträglichkeit unterschiedlicher Verkehrsträger zu unterstützen.
Die Forschungswerkstatt diente als erstes Realexperiment für das Projektziel, etwa 17 000 Quadratmeter der Stuttgarter Verkehrsflächen umzugestalten. Über einen co-kreativen Ansatz sollen Flächen (etwa Straßen, Plätze, Parkflächen, …) für 2023 ausgewählt, bedarfsgerechte Ideen entwickelt und in enger Abstimmung mit lokalen Akteuren, Behörden und Unternehmenspartnern temporär oder dauerhaft umgesetzt werden. Das Vorhaben wird gefördert aus Mitteln des Stuttgarter Klimaschutz-Innovationsfonds und in Kooperation mit den Global Shapers Stuttgart e.V durchgeführt.